KARLSRUHE. Die gesetzlichen Regelungen, dass Patienten grundsätzlich nur in der geschlossenen Psychiatrie zwangsweise behandelt werden dürfen, sei mit der staatlichen Schutzpflicht nicht vereinbar, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem Beschluss (AZ: 1 BvL 8/15). Deutschlands höchstes Gericht forderte deshalb eine Gesetzesreform. Nach 2013 neu geregelten gesetzlichen Bestimmungen ist eine medizinische Zwangsbehandlung nur zulässig, wenn der psychisch Kranke oder behinderte Mensch seinen freien Willen nicht mehr äußern kann und die Therapie nur mit freiheitsentziehenden Maßnahmen – in der Regel in einer geschlossenen Einrichtung – möglich ist.
Die Karlsruher Richter haben entschieden, dass eine zwangsweise Behandlung von Patienten auch dann zulässig ist, wenn diese nicht in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind. Das gebiete die staatliche Schutzpflicht, wenn Hilfsbedürftige keinen freien Willen mehr bilden können. Der Beschluss könnte sich z.B. auch auf demenzkranke Pflegeheimbewohner beziehen. Ambulante Zwangsbehandlung wird explizit ausgeschlossen. Der Göttinger Rechtsexperte und Richter am Landgericht, Matthias Koller, spricht sich dafür aus, im Zuge der jetzt nötigen erneuten Änderung des Paragraphen 1906 BGB alles auf den Prüfstand zu stellen und weitere noch existierende Rechtslücken zu schließen – bevor dazu abermals das höchste Gericht zwingt.
Im jetzt entschiedenen Fall litt die mittlerweile verstorbene 63-jährige Patientin an einer schizoaffektiven Psychose und stand unter Betreuung. 2014 wurde bei ihr eine Autoimmunkrankheit diagnostiziert, später auch Brustkrebs. Die notwendige Behandlung lehnte die Frau ab. Ihre Betreuerin beantragte daher zwecks Zwangsbehandlung die Zwangsunterbringung, zuletzt auf einer geschlossenen Demenzstation. Die Erkrankungen führten schließlich dazu, dass die Frau so geschwächt war, dass sie sich nicht mehr fortbewegen konnte. Daher lehnte das Gericht die Verlängerung der Zwangsunterbringung ab: Die Kranke habe ja keine „Weglauftendenz“ mehr. Doch ohne Zwangsunterbringung erteilte das Landgericht auch keine Erlaubnis zur Zwangsbehandlung.
Doch das Bundesverfassungsgericht betonte jetzt: Der Staat müsse seiner Schutzpflicht gegenüber dem betreuten Kranken auch dann nachkommen, wenn er nicht in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht ist. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat, es beinhalte auch Schutzpflichten des Staates, wenn Kranke ihren freien Willen nicht mehr äußern können. Hier habe zwar die Kranke sich gegen die medizinischen Maßnahmen ausgesprochen, wegen ihrer psychischen Erkrankung habe aber kein freier Wille vorgelegen. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung sind nun Zwangsbehandlungen in vergleichbaren Fällen außerhalb einer geschlossenen Einrichtung erlaubt.
Matthias Koller, für den Maßregelvollzug zuständiger Vorsitzender Richter am Landgericht Göttingen, sieht in dem Urteil eine Tendenz, medizinische Rechtslücken zu füllen, die durch die BVG-Urteile zur Zwangsbehandlung von 2011 und 2012 aufgetreten seien, die das Selbstbestimmungsrecht der Patienten und ihre „Freiheit zur Krankheit“ in den Vordergrund stellten. Mit weiteren Urteilen sei angesichts offener Fragen zu rechnen, meint er. Zum Beispiel: „Was ist mit denen, die z.B. wegen eines Blinddarmdurchbruchs dringend eine OP benötigen, dies krankheitsbedingt ablehnen, aber weglaufen könnten?“ Eine Frage, die insbesondere Ärzte umtreibt, die sich an der Grenze zur unterlassenen Hilfeleistung agieren sehen. Mitunter würden solche Menschen erstmal geschlossen in einer Psychiatrie untergebracht, um sie dann sofort in die Somatik weiterzuleiten – aber: „Das ist rechtlich fragwürdig. Und: Wie soll dort Freiheitsentzug eigentlich gesichert werden, muss dann ständig eine Pflegekraft neben dem Bett sitzen?“ fragt Koller.
Und was ist z.B. im Fall eines Diabetikers mit Vergiftungswahn? Eine Insulinversorgung ist auch ohne Unterbringung möglich. Im Extremfall muss hier derzeit die Bewusstlosigkeit, eine akute Lebensgefahr abgewartet werden, bevor zwangsweise Insulin gespritzt werden kann. Dabei gelte die Schutzpflicht des Staates eigentlich für jeden, der nicht einwilligungsfähig und schwer krank ist und behandelt werden könnte. Koller geht davon aus, dass der aktuelle Beschluss auch die medizinische Versorgung – z.B. von Demenzpatienten etwa mittels PEG-Sonde – in einem „qualifizierten Pflegeheim“ erlaube, vorausgesetzt, dass der Patient sich nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen kann. Der Haken: Die Maßnahme muss ärztlich angeordnet und überwacht werden. „Die Frage ist, wie die Überwachung aussehen soll. Reicht es, wenn ein Arzt nur morgens und abends vorbeikommt?“
Nicht behandelt werden darf weiterhin, wenn die Weigerung dem „ursprünglichen freien Willen des Betreuten“ entspricht. Dies wiederum unterstreicht die Bedeutung einer rechtzeitig verfassten Patientenverfügung. Letztere muss seit einer aktuellen Entscheidung des Bundesgerichtshofs allerdings sehr konkret beschreiben, was in welchem Krankheitsstadium gemacht werden darf und was nicht.
Angesichts der jetzt nötigen Überarbeitung beziehungsweise der Ergänzung des § 1906 BGB spricht sich Matthias Koller unterdessen dafür aus, alles auf den Prüfstand zu stellen – und z. B. auch weitere Fragen wie die nach Möglichkeiten ambulanter Zwangsbehandlung noch einmal zu diskutieren und zu regeln. Letzteres wird in dem aktuellen Beschluss ausdrücklich nicht erfasst – könnte aber mit Blick auf Hometreatment in der Zukunft größere Bedeutung erhalten. Anke Hinrichs