HAMBURG. „Erinnern und Lernen – von den Verbrechen der NS-Psychiatrie bis heute“ war eine Veranstaltung in der Patriotischen Gesellschaft Hamburg überschrieben, die als Ergänzung zur Wanderausstellung „erfasst, verfolgt, vernichtet – kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“ zahlreiche Interessierte anlockte. Dabei stand vor allem die Psychiatrie in der Hansestadt im Focus.
1930 war Hamburg eine Musterstadt in Sachen Psychiatrie. Sie veranschlagte im Haushalt 30 Prozent mehr Ausgaben für psychisch Kranke als vergleichbare Städte, hob Prof. Dr. Hendrik van den Bussche, ehemaliger Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, zu Beginn seines Vortrags „Die Hamburger Psychiatriepolitik bis Kriegsbeginn und das Schicksal der Betroffenen“ hervor. Das passte in die Tradition, galt doch schon 1864 die „Separat-Irrenanstalt“ Friedrichsberg mit seinem weitläufigen Parkgelände und seinem revolutionären Konzept ohne Zwangsjacken als ein Novum und vorbildlich in Deutschland. Auch die zweite Hamburger Anstalt in Langenhorn, die landwirtschaftlich angelegt war, galt als modern.
Es gab aber auch eine andere Seite: Beim Hungersterben 1917 – 1919 hatte Langenhorn eine Todesrate von 25 Prozent. Und die Weltwirtschaftskrise 1929 – 1933 schlug auch auf die Psychiatrie durch: „Ab 1930 gab es drastische Sparmaßnahmen in der Hamburger Fürsorge“, so van den Bussche. Hierbei schockierend: „Es gab eine Zunahme eugenischer und diskriminierender Argumentationen zur Begründung der Sparmaßnahmen in den Behörden“. Besonders tat sich hier Oskar Martini (DDP), seit 1920 Präsident des Hamburger Wohlfahrtsamtes, hervor. „Martini, immerhin Leiter einer Hamburger Behörde, redete schon vor 1933 wie später die Nazis“. 1937 wurde er dann auch offiziell einer und diente dem NS-Regime in Hamburg ergeben als Fachmann für das Wohlfahrtswesen.
Ab 1933 begann auch in Hamburg die „Informationskampagne“ der Nazis mit der Bloßstellung von „minderwertigen Patienten“ mit einer Propaganda für die „Kostensenkung“. Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ begannen 1934 die Sterilisationen. 400.000 Zwangssterilisationen gab es im Reich. „Die Schätzungen für Hamburg liegen bei 22.000“, so van den Bussche. Geschätzt hatte man 1934 die Zahl der „Erbminderwertigen“ auf 35 bis 40.000. Zur Sterilisation bestimmt wurden Schizophrene, manisch-depressive, schwere Alkoholiker, Menschen mit „angeborenem Schwachsinn“, mit schweren erblichen körperlichen Missbildungen und mit erblicher Epilepsie. „Jeder in der Psychiatrie aufgenommene Patient wurde vor der Entlassung sterilisiert. Die Patienten wurden nicht aufgeklärt und wussten nicht, was mit ihnen geschah. Teilweise wurden sie auch in Hörsälen den Medizinstudenten vorgestellt und manchmal auch dort operiert.“ Viele der zwangssterilisierten und nichtentlassenen Psychiatriepatienten wurden während des Krieges Opfer der „Euthanasie.“
Mit den Nazis begann auch schnell das Sterben in den Hamburger Anstalten. „Schon 1935 stiegen die Beerdigungskosten um 30 Prozent.“ Ziel für Langenhorn, nach Entfernung der psychisch Kranken aus Friedrichsberg und ihrer Verlegung dorthin die einzige Anstalt, war eine Absenkung der Kosten und eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Erträge. Nicht heilbare Patienten sollten zudem nicht mehr behandelt, sondern nur noch verwahrt werden.
Dr. Michael Wunder (Evangelisches Krankenhaus Alsterdorf) übernahm im Anschluss die Auf-
gabe, über die „Euthanasie“-Praxis in Hamburg zu berichten und einen Blick zu wagen auf heute. Mit dem „Euthanasie“-Erlass Hitlers am 1. 9. 1939 stieg auch der Druck auf die Familien, Kinder in Anstalten zu geben. Dort herrschte eine drangvolle Enge, der Alltag wurde unerträglich. „Dies erleichterte sehr die Abwertung menschlichen Lebens“, so Wunder. Und auch das Töten.
Am 23. September 1940 wurden 136 jüdische Patienten aus Langenhorn in die Tötungsanstalt Brandenburg deportiert und noch am gleichen Tag durch Gas ermordet. In den „Kinderfachabteilungen“ Langenhorn und Rothenburgsort wurden 22 bzw. 60 Kinder erwiesenermaßen ermordet. Am 10. Juli 1941 ging ein erster T4-Transport aus Langenhorn mit 50 Männern in Richtung Bernburg, wurde aber aufgrund des Stopps der „Euthanasie“-Maßnahmen durch Hitler nach Königslutter umgeleitet, später wurden sie bei Gniezno getötet. Die Auswahl der Patienten erfolgte in Langenhorn durch die Oberpfleger, die Wert darauf legten, dass die guten Arbeiter blieben – so sagte es ein Pfleger 1946 aus. Die Ärzte begutachteten dann die Fälle. Auf die Todesliste gerieten leicht Menschen mit hoher Pflegeaufwendigkeit, schlechter Arbeitsleistung, mit fehlenden oder nicht bekannten Angehörigenkontakten, mit schwierigem Verhalten. „Das wichtigste Selektionskriterium war die Verwertbarkeit des Menschen“, so Wunder. Gleichzeitig forderte die dezentrale „Euthanasie“ viele Opfer in Langenhorn – die Sterberate stieg auf 20 Prozent. Nach heutigem Forschungsstand wurden 4265 Menschen aus Hamburg im Zuge der „Euthanasie“ getötet. Und heute? Wunder beschwor zum Abschluss das „Miteinander der Verschiedenen“, die Gemeinschaft aller, die innerlich differenziert und vielgestaltig ist.
Eine Film-Kollage mit Dorothea Buck – zusammengestellt von Filmemacherin Alexandra Pohlmeier –, in der sie von ihrer Zwangssterilisation erzählte, leitete den letzten Beitrag des Abends ein. Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner berichtete, wie mühsam es war, den Überlebenden der NS-Psychiatrieverbrechen Gehör zu verschaffen. „1983 waren Sterilisierte und Euthanasie-Opfer als einzige als Nazi-Opfer noch nicht anerkannt.“ Deshalb wurde in Gütersloh von psychiatrisch Tätigen, Ärzten und Historikern eine AG gegründet, die 1984 die Gütersloher Fortbildungswoche organisierten, in der man sich zum ersten Mal seit 1945 vier Tage lang mit den „Euthanasie-Verbrechen“ beschäftigte.
Die Widerstände waren groß. Bei einer Pressekonferenz stellte dann ein Journalist Dörner die entscheidende Frage: „Haben Sie schon mal daran gedacht, mit den Opfern zu reden?“ Er wäre fast versunken vor Scham, so Dörner. Aber danach wurde kommuniziert, viele Betroffene meldeten und der Bund der Zwangssterilisierten und Euthanasiegeschädigten mit Dorothea Buck gründete sich. Am Ende wurden endlich auch vom Bundestag nach vielen Anträgen und Kontakten die überlebenden Opfer anerkannt und gewisse Entschädigungen bei körperlichen Schäden gezahlt – „ein wichtiger symbolischer Akt“. Die Mauer des Schweigens war durchbrochen, und Betroffene stritten für ihre Anliegen. „Aber ohne die sprachbegabte Dorothea Buck wäre die Anerkennung als Opfer nicht möglich geworden“, so Dörner. Michael Freitag