Die Regisseure Oliver Sechting (39) und Max Taubert (25) haben einen berührenden Dokumentarfilm über Oliver Sechtings Zwangserkrankung realisiert. Der Kinofilm „Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“ gibt tiefe Einblicke in sein Seelenleben und macht anderen Betroffenen Mut, sich nicht für die Erkrankung zu schämen.
Als Oliver Sechting elf Jahre alt war, erkrankte sein Vater, ein Juwelier, an Krebs. Der Junge erlebte, wie sein sonst so starker Vater körperlich abbaute, bis er schließlich starb. Verlustängste um seine Mutter wurden immer stärker. Zu dem Zeitpunkt begannen Olivers Zwänge. Linien durften nicht betreten werden und Stufen nur in einer bestimmten Reihenfolge. Das gab ihm Halt, doch sein Verhalten fiel auf. Oliver verschob die Zwänge in seinen Kopf. Er hatte mehrere Psychiatrieaufenthalte und wurde zunächst irrtümlich wegen einer paranoiden Schizophrenie behandelt. Erst Jahre später führte sein Weg zu dem Chefarzt Prof. Dr. Peter Bräunig (Vivantes Humbold-Klinikum und Vivantes Klinikum Spandau), der die Diagnose anzweifelte. Er und seine Kollegen diagnostizierten schließlich eine schwere Zwangserkrankung. Magische Zwangsgedanken machen Oliver Sechting das Leben schwer. Er sieht überall Zahlen und Farbkombinationen, die ihn quälen. Ständig ist er damit beschäftigt, ungünstige Zahlen zu neutralisieren. Früher schluckte er deshalb Diamanten, heute schreibt er Zahlen auf Zigaretten bevor er sie raucht.
Worum es im Film geht: Eigentlich wollten Oliver Sechting und Max Taubert einen Dokumentarfilm über New Yorker Künstler realisieren. Doch schon am zweiten Tag macht ihnen die Erkrankung einen Strich durch die Rechnung. In New York dominieren die Zwangsgedanken und die damit verbundenen Ängste das Leben der zwei. Die beiden Regisseure geraten in einen Konflikt miteinander, den sie kurzerhand zum Thema des Films machen. Teilweise beklemmend, dennoch voller Kraft und Energie, wird der Zuschauer Zeuge von intimen, hoch emotionalen Szenen der Auseinander- setzungen.
Von seinem Lebenspartner Rosa von Praunheim ist Oliver es gewohnt, dass dieser ihm hilft. Max jedoch distanziert sich, was Oliver weiter verzweifeln lässt. Sequenzen verstörender Visionen verdeutlichen eindringlich, wie es in ihm aussieht. Die Männer kommunizieren immer weniger, dennoch arbeiten sie weiter. Persönliche Filmaufzeichnungen wechseln sich mit Interviewsequenzen aus der New Yorker Künstlerszene ab.
Olivers Erkrankung wird auch hier ein Thema. Der Filmregisseur Tom Tykwer gibt preis, dass er ebenfalls Rituale verfolgt. Max überfordert die Situation mit seinem verzweifelten Freund, der sich der Absurdität seiner Gedanken bewusst ist. Oliver schafft es nicht, sich den Zwängen zu widersetzen. Er kommt nicht mehr hinterher, die Zahlen zu neutralisieren. Neue Stresssymptome treten auf und der Leidensdruck steigt. Max geht es nur noch darum, die Tage in New York zu überstehen. Das Filmprojekt scheint zu scheitern, doch die beiden finden einen Weg, ihre Arbeit gemeinsam zu beenden. „Wir kennen uns seit vier Jahren, doch das Ausmaß der Erkrankung war mir nicht bewusst und hat mich sehr berührt,“ so Max Taubert. „Menschen mit Zwangsstörungen sind oftmals sehr geräuschempfindlich. Sie mögen die Stille, überschaubare Strukturen und den vorgezeichneten, gut kalkulierbaren Prozess der Abläufe, was bei dem Aufenthalt in New York nicht gegeben war. Dazu kam der Zeit- und Leistungsdruck“, erklärte Prof. Dr. Bräunig, nachdem er den Film gesehen hatte.
„Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“ ist ein beeindruckend ehrlicher Film, der den Protagonisten viel Durchhaltevermögen und Überwindung abverlangt hat. Oliver Sechting betont: „Therapien können helfen, aber nicht immer heilen. Darüber kann man verzweifeln oder man versucht, das Beste daraus zu machen. Unser Film soll Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Mut machen, zu sich selbst zu stehen und selbstbewusst durch das Leben zu gehen.“
Andrea Rothenburg (Originalveröffentlichung: Eppendorfer 12/2014 & 1 / 2015)