Purer Balsam für die Seelen aller PEPP-, OPS- und Bürokratie- und Controlling-Geplagten: Der Freiburger Medizinethiker Prof. Giovanni Maio hielt in seinem Vortrag „Verstehen nach Zahlen? Warum die Industrialisierung der Psychiatrie einem falschen Paradigma folgt“ zur Eröffnung des DGPPN-Kongresses ein flammendes Plädoyer für die Bedeutung von Wahrnehmungsräumen und Unmittelbarkeit in der Psychotherapie. Er kristallisierte einen anderen Blick auf Qualität heraus. Diese Qualität jenseits von „industrieller Produktionslogik“ und Prozessoptimierung, die mit Sinnentleerung einhergehe, handele von Beziehung und Kontakt, sei Kern der Medizin und setze ein anderes Verhältnis zur Zeit voraus.
„Leistungsverdichtung, Prozessoptimierung, Wettbewerb. Was macht das mit uns und unserem Denken und Handeln?“ stellte Maio die Ausgangsfrage. Zur Eröffnung eines Kongresses mit dem Titel „Der Mensch im Mittelpunkt – Versorgung neu denken“ einen Moment inne zu halten und nachzudenken, wofür Psychiatrie da ist, das ist der definierte Ausgangspunkt des Ethikers.
Dabei stellte er das Denken „industrieller Produktionslogik“ in Gegensatz zur Zeit mit den Patienten, die, als Kontaktzeit, zentrale Investition der Medizin sei. Nach der industriellen Produktionslogik aber werde die „personalintensive Kontaktzeit“ als zu minimierender Aufwand betrachtet, eine Legitimation zur Zeit-Verknappung – womit zugleich diejenigen, die sich Zeit nehmen, in den Verdacht der Verschwendung und Ineffizienz geraten. „Spart man an Kontaktzeit, spart man am Kern der Psychiatrie“, so Maio, da dies mit einem „Abbau der Ermöglichungsbedingungen“ einhergehe.
Der Produktionslogik entspreche eine „Linearisierung der Komplexität“. In der Industrie sei das Produkt das Ziel, das man versuche mit festen Schemata vorauszuplanen. Verfahrensrationalität, Schematisierung seien hier qualitätssichernd. Ziel: Reibungslose Abläufe. Auf die Medizin oder Psychiatrie übertragen bedeute dies aber in der Konsequenz: Der Patient wird dem Plan/den Schemata untergeordnet. Das Ideal der industriellen Produktion – Routine, geordneter Ablauf des immergleichen – gehe übertragen auf Therapie mit Sinnentleerung einher.
Warum? Weil echte Qualität hier anders entstehe, durch „Handeln in der Unmittelbarkeit“ und „situative Anpassung an Therapieschritte“, weshalb „kein schematisches Handeln sein darf“. Die Überproduktion von Daten, die Nachweispflicht aber verändere vor allem die Wahrnehmung. Führe zu einer sukzessiven „Umerziehung der Heilberufe“ dahingehend, vor allem dem Formalisierbaren Beachtung zu schenken. Bürokratisierung lenke die Wahrnehmung um. Maio sprach von einem „Aufmerksamkeitsverzehrer“. Der Eindeutigkeit und Messbarkeit stellte er das Lebensweltliche gegenüber. Attestierte der Psychiatrie eine Entfremdung vom Patienten.
Denn ihre Aufgabe – eine Antwort auf die Not der Patienten zu finden – müsse kreativ in der Begegnung erschlossen werden. Qualität meine „Qualität der Beziehung“. Damit diese entstehen könne, brauche Psychiatrie Raum für das Entstehen, Atmosphäre, innere Ruhe, innere Freiheit. Der Kern sei der Deutungsprozess. Dies setze grundsätzliche Offenheit voraus – statt Festlegung der Patienten in Rastern. Es geht um die Besonderheit des Individuums im Gegensatz zur Berechenbarkeit der Zahl. Daten müssen aus dem Kontext gelöst werden, wenn man sie in Maschinen-logische Form bringen wolle – wie es mit dem Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) geschieht, der Grundlage für die Leistungsabrechnung im medizinischen Fallpauschalensystem ist.
In der Psychiatrie gebe es eine Kluft zwischen Theorie und Praxis. In der Praxis brauche es Urteilskraft, die nur nach Übung und durch Erfahrung entstehe und nicht durch Auswendiglernen erworben werden kann. Es gehe um „tagtägliche Problemlösungsversuche“. Diese Kernarbeit aber bleibe im System oft unerkannt, Könnerschaft (= Komplexität angemessen zu bewältigen) sei hier schwer abbildbar. Messbarkeit habe die (durch PEPP verstärkte) Tendenz, engagierte Psychiatrie in die Defensive zu bringen.
Wichtig sei das Verstehen. Dies beinhalte, die „Andersheit des Anderen“ anzuerkennen. Maio sprach des weiteren von der „Hinwendung zum Besonderen“, von einer „Ästhetischen Urteilskraft“ – im Gegensatz zur logischen Urteilskraft. „Nicht selten“, so der Mediziner und Philosoph, „schiebt sich die Diagnose zwischen Arzt und Patient und hindert am Verstehen.“ Verstehen – „gemeinsamen Sinn teilen, der im Zwischen liegt“ – habe auch mit Charaktertugend zu tun, so Maio, mit einer „Disposition des Wohlwollens“. Und das Verstehen lasse sich nicht erzwingen. „Wir können nur wirklich verstehen, wenn wir nicht alles vorplanen, sondern aufgeschlossen bleiben.“ Ein Prozess, der Ruhe brauche. Fazit: Gute Psychiatrie könne sich nur als hörende Disziplin verstehen und sei „das Gegenteil von Planbarkeit“. Hören setze tiefe Aufmerksamkeit voraus. „Ich selbst entscheide, was ich sehen möchte. Hörend werde ich erfasst.“
Gekonntes Hören aber gerate aus dem Blick, kritisierte Maio. Evidenz bedeute die Vorherrschaft der Sichtbarmachung. Hören habe mit Resonanz zu tun. Doch statt von Resonanz werde von Transparenz gesprochen. Und von Evidenz. Die Qualität des Hörens aber lasse sich nicht belegen. „Man hört immer im Jetzt“, so Maio: „Eine Medizin, die nur noch sieht und nicht mehr hört, wird oberflächlich.“ Hören habe mehr Tiefen. „Wer nur noch sehen will, wird blind, ohne es zu merken.“ A. Hinrichs
(Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 1/2016)
Einen weiteren Bericht über Prof. Giovanni Maios wohl bekanntestes Werk „Medizin ohne Maß?” finden Sie hier: