Der ganz persönliche DGPPN-Kongressbericht von Ilse Eichenbrenner
Seit der DGSP-Jahrestagung geht mir der Nachwuchs nicht mehr aus dem Kopf. Deshalb schaue ich schon vor der Eröffnungsveranstaltung ganz kurz bei „Studierende treffen Psychiater“ rein. Prof. Katarina Stengler berichtet über das Fach und schließlich auch über ihr eigenes Leben. Eigentlich sei sie schon Augenärztin gewesen, als der legendäre Leipziger Sozialpsychiater Klaus Weise ihren Weg kreuzte. Initialzündung! Sie schwärmt von ihm und diesem aufregenden Beruf und dem Mentoringprogramm der DGPPN. Die Studierenden fragen, wie es denn mit der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben aussehe. Feierabend um 17 Uhr? Das fängt ja gut an …
Inzwischen ist die Eröffnungsveranstaltung überfüllt, und ich höre mir via Videoübertragung den faszinierenden Vortrag von Prof. Thomas Fuchs (siehe Seite 3) an. Auch wir „Nebenhörer“ applaudieren, bleiben aber sitzen. Standing Ovations vor einer Projektion – das wäre dann doch too much.
Terror: Wann und wie muss man intervenieren?
Wie wird ein junger Mann zum Terroristen? Beim letztjährigen Kongress war das Thema zum Anfassen noch zu heiß, aber auch da hatte schon Prof. Jérôme Endrass aus der Schweiz beeindruckt. Ganz systematisch, beinahe abgeklärt referiert er heute über Grundsatzfragen, Typologien und Stadien. Hat die Gewaltanwendung ein strategisches Ziel, wie relevant ist eine autochthone, also eine eigenständige Ideologie, ist die Gewalt „Home grown“ wie beispielsweise bei den Schul-Amokläufern? Rund 80 Prozent aller terroristischen Anschläge ereignen sich in Kriegsgebieten, führt er auf. Die aktuellen Tendenzen: vom Sprengstoff zu den Schusswaffen, die Täter radikalisieren sich immer rascher, sind immer jünger, jeder zehnte ist inzwischen weiblich. Seine Kollegin, PD Astrid Rosegger von der Uni Konstanz, ist Expertin für das forensische Risk-Assessment. Sie schlägt vor, die Fragestellung zu ändern. Nicht: Wird er es tun? Sondern: Muss man intervenieren? Sie stellt Checklisten und Verfahren vor. Zum Schluss bringt Prof. Nahlah Saimeh wie gewohnt alles sehr prägnant auf den Punkt: Die wenigsten Terroristen sind psychisch krank. Aber: „Diese Camps sind ein Eldorado für das Ausleben von Tabuverlust, Verrohung und Sadismus. Religiös begründeter Terror gewinnt durch die göttliche Absolution. Terrorismus zu psychiatrisieren heißt ihn zu bagatellisieren. Terror basiert im-
mer auf einem nach außen verlagerten inneren Feind, im Sinne von malignem Narzissmus. Radikalisierung reduziert Ambivalenz“.
Und: Terror ist nicht vorhersehbar, auch wenn die Instrumente immer feiner werden.
Zur Abwechslung mal gute Nachrichten gab es bei der Pressekonferenz zu neuesten Erkenntnissen der Forschung. Dort verkündete Prof. Michael A. Rapp: Die Anzahl der Demenzerkrankungen ist minimal rückläufig, möglicherweise eine Folge der besseren Lebensführung. Regelmäßige körperliche und geistige Aktivitäten sind effektiv, und zwar für die Prävention aller (psychischen) Erkrankungen.
Psychose: Erfolgreiche Früherkennung mit MRT
Prof. Nikolaous Koutsouleris hat sich auf die Früherkennung von Psychosen spezialisiert. Das von der EU-geförderte Forschungsteam PRONIA entwickelt ein Prognose-Tool, um drohende psychotische Erkrankungen bei Menschen mit bestehenden Risikosymptomen frühzeitig zu erkennen, um das Erkrankungsrisiko durch Verhaltenstherapie zu reduzieren. Laut Koutsouleris liege die individuelle Vorhersagegenauigkeit mittels MRT und neurokognitiver Testung bei etwa 80 Prozent.
Prof. Andreas Heinz und Prof. Andreas Meyer-Lindenberg referierten vor der Presse über neue Computerbasierte Früherkennungs- und Trainingsmodelle. Immer wieder fällt das Stichwort „machine learning“ und Künstliche Intelligenz. Hier habe sich nach vielen Jahren der Stagnation jüngst viel getan, müsse sich aber noch mehr tun. Die im Einführungsreferat von Prof. Thomas Fuchs geäußerte Skepsis gegenüber den neurowissenschaftlichen Ansätzen wird hier nicht geteilt. Neurobiologie, bildgebende Verfahren und Datenanalyse seien vielversprechende Strategien, auch zur frühen Identifizierung und positiven Beeinflussung von Erkrankungen.
Vergewaltiger: Allenfalls drei Prozent gestört
Sexuelle Gewalt – was steckt dahinter?
Eine weitere, hochkarätig besetzte Pressekonferenz gibt Antworten. Prof. Nahlah Saimeh führt ein. Zu unterscheiden ist zwischen paraphilen und impulskontrollgesteuerten Tätern, das bedeutet: Längst nicht alle Sexualstraftäter sind paraphil, also in ihrer Sexualität gestört; viele leiden vorrangig an einer Impulskontrollstörung. Die Therapie müsse sich an der Diagnose orientieren, und nicht am Delikt. Prof. Henning Saß definiert Schuldunfähigkeit beziehungsweise verminderte Schuldfähigkeit und beantwortet etliche Nachfragen. Es ist ja auch wirklich nicht einfach zu verstehen, dass ein Täter zwar eine Persönlichkeitsstörung haben, aber trotzdem voll verantwortlich sein kann. Ebenso schwer zu verstehen ist, dass nahezu jeder Vergewaltiger nicht psychisch krank sei. Prof. Hans-Ludwig Kröber spricht von drei Prozent, die allenfalls gestört sind. Verblüffung bei der Presse, gefolgt von einem Aha-Effekt: 30 Prozent aller amerikanischen College-Studenten würden vergewaltigen, wenn es straffrei wäre; im Krieg – und jetzt kapiert es jeder – werden fast alle Männer zu Vergewaltigern. Eine Journalistin weist darauf hin, dass just heute der Tag der „Gewalt gegen Frauen“ ist und zeigt sich enttäuscht über den forensischen Schwerpunkt.
Ich besuche weitere Veranstaltungen zum Thema Forensik, häusliche Gewalt und Stalking. Es wird breit geforscht, analysiert und evaluiert, vor allem in der Schweiz. Angela Guldimann aus Zürich hat untersucht, wie zutreffend Opfer mögliche zukünftige gewalttätige Übergriffe vorhersagen. Leider sind die Ängste dieser fast immer weiblichen Opfer überwiegend berechtigt. Nach der Tötung einer Frau durch ihren Partner im Kanton Zürich, die vergeblich um Hilfe nachgesucht hatte, wurde dort ein differenziertes Bedrohungsmanagement entwickelt, das von Reinhard Brunner von der Kantonspolizei vorgestellt wird. Andere Kantone werden das Programm übernehmen; das Auditorium ist deutlich beeindruckt.
Filmfestival, personenzentriert
Es ist kein Geheimnis, dass ich das einem Brikett ähnelnde Kongressprogramm einer speziellen Selektion unterziehe. Visuelle Reize haben Vorrang. Deshalb lande ich am zweiten Kongresstag in einer Veranstaltung zu „Visual History“. Nach einem einführenden Vortrag (alles ist Konstrukt) werden schon die ersten Clips aus dem Lehrfilm „Gezielte Gymnastik bei Katatonen“ aus dem Jahr 1957 gezeigt. Ort der Handlung ist die psychiatrische Klinik Lengerich. Nach der Betrachtung stellt sich die Frage, ob denn diese Männer alle an einer Katatonie leiden – oder nicht doch eher die erste Generation mit einer schweren extrapyra-
midalen Symptomatik sein könnten?
PD Ekkehardt Kumbier projiziert kurze Ausschnitte aus einem Lehrfilm, der 1985 in der Psychiatrischen Klinik Ueckermünde gedreht wurde. Und genau dort habe ich den ganzen Film 1990 beim Besuch mit einer DGSP-Kommission bereits gesehen. Zur Disziplinierung kam der DDR-Patient früher nicht in die Fixiergurte sondern unter ein Netz – ich erinnere mich…
Ein bewegendes Filmdokument zeigt den Künstler Alfred Hrdlicka in der Klinik Landeck, im Gespräch mit den Patienten. „Gespräche mit Vergessenen“ heißt diese 1972 entstandene Doku, sie ist über den Bayerischen Rundfunk zu beziehen. Die jungen Männer, die dort zu sehen sind, stehen vor der Essensausgabe, sitzen auf dem Boden, und warten – einer sitzt hier seit neun Jahren … Man atmet auf, als einige Szenen aus der Tagesklinik in Heidelberg, zur Verfügung gestellt von Maria Rave-Schwank, munter plaudernde Menschen in der Kaffeerunde am Freitag zeigen, bei der beim besten Willen nicht zwischen Mitarbeitern und Patienten zu unterscheiden ist.
Zur dritten Filmveranstaltung treibt mich ein wegen Überfüllung geschlossener Saal, in dem ich mich eigentlich zum Thema „Jugendwahn und Silver Sex“ schlau machen soll. Also flüchte ich in „Viktor und der Selbstmord – zum Glück gescheitert“, der bei youtube frei abrufbar ist. (Der EPPENDORFER hat im Oktober 2014 ausführlich über das Buch „Die Geschichte meines Selbstmords und wie ich das Leben wiederfand“ von Viktor Staudt berichtet). Im Film beeindruckt der Protagonist und Buchautor – seit seinem gescheiterten Suizidversuch beidseits amputiert – mit Eloquenz und Authentizität. Er reist mit Buch und Vortrag durch die Länder, spricht vor Polizisten und Therapeuten und scheint einer jener Menschen zu sein, die mit Hilfe eines Antidepressivums ein zweites Mal geboren werden.
Das ungemein populäre Basismodell
Ich habe ja schon im letzten Jahr das Geheimnis gelüftet: volle Säle bei Lifestyle, Diagnostik und Therapie, gähnende Leere bei der Sozial- und Gemeindepsychiatrie. Das bestätigt sich auch in diesem Jahr. Man kann sich also auf mehreren Stühlen ausbreiten, als über die so genannten stationsäquivalenten Leistungen gesprochen wird. Wer den Zungenbrecher noch immer nicht beherrscht, darf auf „Hometreatment“ ausweichen. Nachdem wir das
ursprünglich geplante gefürchtete „PEPP“-Psychiatrie-Abrechnungssystem mit unseren Demonstrationen erfolgreich verscheucht haben, zitieren die Redner nun aus dem jetzt beschlossenen „Psych- VVG“. Eigentlich ist dies eine Werbeveranstaltung für „stationsäquivalente Leistungen“. Die DGPPN-Präsidentin Dr. Iris Hauth weist darauf hin, dass man nun erstmal konzeptionieren und arbeiten müsse, Sitzungen mit den wichtigen Akteuren sind bereits geplant.
Teilhabegesetz: Erleichterung macht sich breit
Sollte man sich nun – vor den abschließenden Sitzungen im Dezember – schon wieder mit dem Entwurf des Bundesteilhabegesetzes beschäftigen? Prof. Ingmar Steinhart deutet an, dass die „No Go’s“ ausgeräumt seien und meint, der Knackpunkt liege nun bei der Ausgestaltung der Länder. Er moniert, dass das Gesetz keine empirische Grundlage habe, die liefere man jetzt nach. Er referiert die Ergebnisse seiner Untersuchung, in der Empfänger von Leistungen der Eingliederungshilfe befragt wurden. Fazit: Viele sind nicht freiwillig im Heim. Wer früh erkrankt, hat einen besonders hohen Unterstützungsbedarf. Dieser muss abgedeckt sein – nicht nur durch stationäre Unterbringung, und vor allem im Bereich der frühen Hilfen.
Referent Dr. Rolf Schmachtenberg bestätigt dann, dass der von der DGPPN und vielen anderen Fachverbänden strikt abgelehnte, im Dezember zur Abstimmung stehende Entwurf ausgeräumt sei: Der Behindertenbegriff (5 von 9 Kriterien), das „Zwangspoolen“ zugunsten des Wunsch-und Wahlrechts der Klienten, und die Pflege vor/statt Eingliederungshilfe. Große Erleichterung macht sich im Saal breit, denn viele sind erschöpft vom Demonstrieren und den vielen Stellungnahmen. Natürlich gibt es weitere Forderungen, und sie werden zum Beispiel von Dr. Iris Hauth formuliert: Der inklusive Arbeitsmarkt müsse verpflichtend werden, Teilhabeplanung und Teilhabekonferenzen verbindlich.
Zwischen Sekt und Selters …
Eigentlich wäre das der richtige Moment gewesen, um mit Prof. Ingmar Steinhart und einem Glas Sekt anzustoßen. Doch das war bereits am Vortag erledigt worden: anlässlich der Vorstellung des von ihm und Prof. Günther Wienberg herausgegebenen Buchs „Rundum ambulant. Funktionales Basismodell psychiatrischer Versorgung in der Gemeinde“. Die Idee war beim DGPPN-Kongress geboren und ausgegoren worden, Dr. Iris Hauth gratuliert. Ich schaue die Präsidentin skeptisch von der Seite an. Sie ist mir unheimlich. Ist es diesmal die Echte? Bei jeder Veranstaltung, jeder Pressekonferenz, jeder Preisverleihung und nun auch noch bei einer popeligen Buchvorstellung ist sie immer präsent: innerlich und äußerlich perfekt vorbereitet, ruhig, entspannt und engagiert. War da nicht was mit Klonen und künstlicher Intelligenz?
Es sind vielleicht ein gutes Dutzend Insider, der „harte Kern“, die sich bei den gemeindepsychiatrischen Veranstaltungen treffen. Man bleibt unter sich. Die Zielgruppe, die informiert und missioniert werden soll, wird vermisst: die jungen Niedergelassenen, die Hausärzte, für die extra ein Hausärzte-Track am Sonnabend, außerhalb der Sprechstunden, eingerichtet wurde. Immerhin: Ein paar Klinikärzte sind gekommen.
Trotzdem, man ist zufrieden. Die DGPPN hat sich positiv verändert, noch vor Jahren wären derartige Inhalte gar nicht ins Programm gekommen. Diese kleinen, informellen Treffen am Rand haben ja auch ihr Gutes. Ohne Verbitterung wird noch ein Kaffee getrunken, bevor alle wieder zum Bahnhof rennen.
Ich lasse den Tag mit ein paar Häppchen ausklingen. Videospiele haben positive Effekte, sagt Prof. Jürgen Gallinat aus Hamburg. Neuroleptika beeinflussen vermutlich die Selbstbestimmungsfähigkeit von Patienten, sagt Dr. Jann Schlimme. Und Dr. Hermann Elgeti aus Hannover wirbt mit ein paar schönen Folien bei den Hausärzten für die bessere gemeindepsychiatrische Kooperation nicht nur bei Psychosekranken.
Manchen hätte ich ein paar hundert mehr Zuhörer gewünscht – zum Beispiel Martin Kolbe bei der arg schlecht besuchten „Bipolar Roadshow“ am Freitagabend. Der Gitarrenheld meiner Jugend nimmt nach 25 Jahren das Instrument wieder in die Hand, flankiert von Hiphopper Flowin Immo und Sebastian Schlössers Lesung aus dem Buch „Lieber Matz, dein Papa hat‘ ne Meise“. Coole Mucke, krasse Kunst, das Leben ist manchmal ein Wunschkonzert. Vielleicht kann die Bipolar Roadshow ein Main-Event werden beim WPA XVII World Congress of Psychiatry im nächsten Jahr, vom 8. -12. Oktober im City Cube. Da kenne ich mich schon aus. Vielleicht schaue ich – rein privat – mal kurz vorbei.
Ilse Eichenbrenner