Schildkröten und Schnecken schützen sich mit einem Panzer, und manche Menschen versuchen es ihnen gleich zu tun. Aber das kann über die grundsätzliche Verletzlichkeit nicht hinwegtäuschen. Der Mediziner, Philosoph und Medizinethiker Giovanni Maio widmet sich in seinem aktuellen Buch „Ethik der Verletzlichkeit“ dieser Eigenschaft aus verschiedenen Blickwinkeln und lotet vor allem die Bedeutung für die Medizin aus.
Überzeugend legt er in neun Kapiteln Schritt für Schritt dar, dass verwundbar zu sein zum Mensch sein gehört. Körperlich sichtbar schon im ersten Durchtrennen der Nabelschnur, seelisch spürbar in zahlreichen Situationen. Dabei ist es dem Autor wichtig, dass die Möglichkeit, verletzt zu werden, eben nur eine Möglichkeit ist, ein Schwebezustand quasi, der keinesfalls zu tiefen Wunden führen muss. Vielmehr macht diese Eigenschaft deutlich, dass wir als soziale Wesen aufeinander angewiesen sind. Beziehung gehört ganz notwendig zu einem gelungenen Leben. Doch wer sich bindet, kennt auch den Trennungsschmerz.Besonders verletzlich sind wir im Moment der Krankheit, wenn plötzlich nicht mehr gilt, was wir bis dahin als selbstverständlich angenommen haben. Unsicher sind wir dann, zweifelnd. Aber auch das muss nicht zum Absturz in Schmerz und Unglück führen. Vielmehr kann sich die Sorge eines Gegenübers genau an diesem Punkt als Rettung erweisen.
Zur Sorge gehört die Begegnung auf Augenhöhe und ein Einfühlen können
Giovanni Maio erläutert dabei sehr feinsinnig und genau, was sich hinter der Sorge verbirgt und was das für die Behandlung von erkrankten Menschen bedeutet. Es ist eben nicht einfach eine Dienstleistung, ein Betten beziehen und Essen reichen für bettlägerige Personen. Vielmehr gehört die Begegnung auf Augenhöhe dazu, ein Einfühlen können in die Nöte, die Scham und Angst der Betroffenen. Wer in diesem Sinne sorgt, kann Menschen vor Verletzung bewahren. Und damit richtet der Arzt einen Appell an alle medizinisch Tätigen. Um sich des Kranken anzunehmen, genügt es eben nicht, eine Schublade mit Fachwissen zu öffnen.
Stattdessen sollte die Bereitschaft bestehen, den Moment und das Gegenüber zu erleben und darauf klug zu reagieren. Nur dann eröffnen sich neue Perspektiven, Mut und Weiterentwicklung. Verletzlichkeit nicht als Schwäche zu sehen sondern als Möglichkeit, die in uns allen angelegt ist, öffnet den Weg zu einer neuen Medizin und auch einer lebendigeren Gesellschaft. Das Etikett der vulnerablen Gruppe empfiehlt Maio gegen den generellen Blick auf die Gegebenheiten zu tauschen. Da wir alle verletzlich sind, hängt es von vielen Umständen ab, ob unsere Verwundbarkeit gerade besonders deutlich zu Tage tritt oder nicht. Wer heute gesund ist, kann morgen erkranken, wir sitzen alle im selben Boot. Ein vehementes Credo für eine Medizin, die das Heilsame der Begegnung als oberste Priorität hat. Eine Einstellung, die sicher bei vielen psychotherapeutisch Tätigen offene Türen einrennt, aber zugleich den Mangel an Zeit und Zuwendung als Quelle zahlreicher Verletzungen offenbart.
Nichtsdestotrotz ist es ein Buch, das in seiner sanften und stringenten Logik Hoffnung auf eine zugewandte Gesellschaft macht. Statt sich im Schneckenhaus zu verbarrikadieren sind wir besser beraten, unsere Verletzlichkeit anzuerkennen und miteinander um ein schwebendes Gleichgewicht ohne Wunden und Narben zu ringen. Verena Liebers
(Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 5/24)
Giovanni Maio: „Ethik der Verletzlichkeit“, Herder Verlag, 1. Auflage 2024, 160 Seiten, 18 Euro.