Benjamin von Stuckrad-Barre ist Anfang 30, mittellos, dauerberauscht, völlig am Ende, als sein Bruder ihn aus dem Hamburger Hotel auslöst und auf den Weg bringt in Richtung Entzug, es sollte der vierte werden. „Ich wusste plötzlich wieder, wo ich herkomme, und wo ich, wenn gar nichts mehr ginge und niemand mehr mich aushielte, immer würde hinkönnen: nach Hause, zu meiner Familie. Und wenn ich das, wie jetzt, nicht schaffte, würde meine Familie mich sogar abholen, wie sehr ich mich auch versteckte, sie würden mich finden und da rausholen“, schreibt er über diesen Moment in seinem „Memoir“ Panikherz. Der nach Ansicht der Sueddeutschen „erstaunlichste Großerfolg dieses Frühjahrs“ ist eine brillant geschriebene Lebens-, Erfolgs-, Drogen- und Krankengeschichte und zugleich Hommage an Familie. Die eigene und die Panikfamilie mit Udo Lindenberg an der Spitze. Inzwischen hat „Stuckiman“, wie Udo Lindenberg den „Bruder im Geiste“ nennt, sogar schon dessen Wohnstil übernommen. Weil er nicht wohnen kann, wie er sagt, lebt auch er inzwischen in Hotels.
Aber von vorn. Angefangen hatte es gut behütet, im Kleinstadtmilieu bei Bremen, im Öko-Pastoren-Elternhaus, mit drei Geschwistern. Später dann der Umzug nach Göttingen. Ein Glück für den Musikfan, der schon mit zwölf Jahren Udo Lindenberg hörte – und dessen Lieder zu lieben begann. Stuckrad-Barre legt schon mit Anfang 20 eine steile Karriere hin. Er schreibt als Schüler Musikkritiken, weil er gratis an Konzertkarten und Platten kommen will, ergattert danach einen Job beim Musikmagazin „Rolling Stone“, arbeitet beim Fernsehproduzenten Friedrich Küppersbusch, wird später Gagschreiber bei Harald Schmidt, verfasst in wenigen Wochen sein erstes Buch, mit dem er bekannt wird. Er gilt nun als „Popliterat“, ist witzig, kommt gut an. Früher Ruhm und Geld.
Auf Seite 155 des mehr als 500 Seiten dicken Buches ist das erste Mal von Kokain die Rede. Problematisch wird aber zunächst eine Essstörung. Aus Magersucht wird Bulimie. Die Essstörung wird zur Hauptbeschäftigung. „Von morgens bis abends, jeden Tag derselbe Ablauf: Entsagung, Kontrollverlust, Fressanfall, Kotzen, Erschöpfung – und wieder von vorn.“ Der körperliche Verfall geht schnell. Schwach, körperlich unterversorgt, lässt er sich in eine Privatklinik für Essstörungen am Chiemsee einweisen. In der Wartezeit auf einen Platz erinnert er sich, dass Kokain gut half, das Hungergefühl zu unterdrücken. Die Sucht ist da: „Ich schlief überhaupt nicht mehr, kokste durch, der Dealer kam fast jeden Tag.“ Vier Monate bleibt er hier, als einziger Mann unter Mädchen auf einer Essstörungsstation. Am Ende hat er sechs Kilo zugenommen. Dagegen hilft, genau, Koks. Bei der Abschlussuntersuchung, so schildert er es jedenfalls, ist er „komplett dichtgekokst“. Sie müssten es doch merken dort. „Sie merkten es nicht.“
Es folgt der totale Rückfall, bis zur völligen Verwahrlosung und Abmagerung, und der nächste Klinikaufenthalt. Adresse: eine Suchtklinik nur für Privatpatienten im Schwarzwald. Auch diese Therapie nimmt er wohl nicht ernst. „Die Billigdeutungen, die einem da mit heiligem Ernst vorgetragen wurden, es war zum Totlachen.“
Es sind keine ausufernden Therapie-Beschreibungen, die der Autor im Rückblick, von seinem edlen Rückzugsort aus, liefert. Udo Lindenberg hat ihn im „Chateau Marmont“ am Sunset Boulevard in L.A. untergebracht, damit er aufschreibt, was wohl aufgeschrieben werden musste.
Udo, immer wieder Udo, der ihm irgendwann dem legendären „Panikarzt“ vorstellt. Der spritzt die Panik-Gang notfalls mit einer ominösen gelben Flüssigkeit fit. Und empfiehlt „Stuckiman“ einen Qualifizierten Entzug in einem Hamburger Vorort. Hier trifft er fast nur Männer, Alkoholiker die meisten. Clean geht er danach mit Udo auf Tour. Zieht in eine WG nach Zürich. Doch auch dort wartet der nächste Rückfall. 2005 schleppt er sich mit letzten Kräften nach Hamburg, in oben benanntes Hotel. Abgebrannt, mit Schulden bei allen Dealern. EC-Karte und Pass liegen als Pfand im Bordell …
Eine Krankenversicherung hat er auch nicht mehr. Es reicht nur noch für eine Frankfurter Kassenklinik. Doppelzimmer, hartes Klientel. Ein Psychiater bringt ADHS ins Spiel, was erklären könnte, warum der Patient ohne Koks so aufgedreht wirkt wie andere mit der Droge. Zwei Wochen dauert die kürzeste, aber offenbar erfolgreichste Therapie, mit Nachsorge im Anschluss. Es folgen trockene Jahre bis heute.
Das Buch ist prallvoll mit Geschichten und klugen Refle
xionen. Erkenntnisse über tiefere Hintergründe der Sucht bleiben rar. Hinter vermeintlich größter Offenheit verbirgt sich auch Selbstschutz. Oder der anderer. Frauen kommen gar nicht vor.
Vor der Reise nach Los Angeles – dem Ort des Entstehens von „Panikherz“ – hätten ihn Depressionen geplagt, erzählte er dem „Spiegel“. Er hatte geheiratet, war Vater geworden. Durch die Geburt des Kindes habe sich ein Verstummen in ihm ausgebreitet. „Er hielt wie viele Ego-Artisten die Kleinfamilie nicht aus“, so der Autor.
Stuckrad-Barre – der ewige Narzisst? Der Selbsthass sei bei ihm so stark ausgeprägt, dass er sich mit dem Wort Narzisst nur zur Hälfte gemeint fühle, sagte er dem ARD-Magazin „Titel, Thesen, Temperamente“. Woran es nun wirklich lag, das ganz große Suchtelend? Ob er es weiß? Wir erfahren es nicht. Das Buch verkauft sich rasend gut. Der wieder viel gefragte – und sehr dünne – Autor lebt mit Schlafmitteln und Antidepressiva und joggt jeden Tag dreimal um die Alster, erfahren wir vom „Spiegel“. Das helfe sehr gegen ADHS, sagte er an anderer Stelle.
Er hat sich alles tapfer und mutig angeguckt. Aber sicher ist er sich wohl nicht. „Man muss aufpassen“, lautet der letzte Satz. Anke Hinrichs
Benjamin von Stuckrad-Barre: „Panikherz“, Kiepenheuer & Witsch, Köln: 2016, ISBN: 978-3-462-31575-2, 576 S., 22,99 Euro.
Originalveröffentlichung: März 2016