Im Herbst 2014 – schockiert noch vom Suizid ihres Freundes Michel – kam bei einer Gruppe von St.-Pauli-Fans der erste Gedanke auf, ein Hilfsprojekt für Menschen mit Depressionen zu starten. Inzwischen, gut zweieinhalb Jahre später, ist daraus der gemeinnützige Verein St. Depri entstanden, der für sein Engagement bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Der EPPENDORFER sprach mit den Vereinsmitgliedern Maike Oelerich und Kristina Tomczak über Entstehungsgeschichte, Angebote und Hintergründe.
HAMBURG. „Wir konnten den Freitod nicht so stehen lassen“, erinnert sich Kristina Tomczak, die zum Freundeskreis von Michel gehörte. Er sei ein Schock gewesen und habe nicht zum Image des lebenslustigen Fußballkumpels gepasst; viele hätten von dessen Depressionen nichts gewusst. „Wir wollten, dass so etwas in der Fanszene von St. Pauli nie wieder passiert.“ Der Suizid sollte einen Sinn bekommen. Depressive sollten erfahren: „Man muss nicht allein sein.“ Und: „Andere haben das auch.“ Nach einem ersten Projekttreffen im Herbst 2014 habe sich bald eine auf drei Säulen fußende feste Gruppe aus Fachleuten, Angehörigen und Betroffenen gebildet, aus der später der Verein entstand.
„Ein trialogisches Konzept ist häufig Absicht“, ergänzt Psychotherapeutin Maike Oelerich. „Hier war es Zufall.“ Allerdings seien die Grenzen bei St. Depri zum Teil fließend. Oelerich besitzt zwar selbst keine Dauerkarte für den FC St. Pauli, ist aber auch schon seit dem zweiten Treffen dabei. „Ich war beeindruckt davon, wie aus gemeinsamer Trauer so etwas Konstruktives mit großem Nutzen für viele Menschen entstanden ist.“ Jeder Interessierte könne „einfach so“ zum monatlichen Stammtisch kommen. Niemand müsse seinen Namen nennen oder überhaupt irgendetwas sagen. Auch müsse man nicht in den Verein eintreten, um die Angebote wahrzunehmen. Und einen Mitgliedsbeitrag gebe es nicht einmal für die Vereinsmitglieder.
Vollständig spendenfinanziert – und stark von St. Pauli gestützt
St. Depri finanziere sich vollständig durch Spenden. „Wir sind für alle offen“, so Tomczak. Das Setting allerdings sei von St. Pauli geprägt. Der Fußballclub unterstütze St. Depri sehr – sowohl finanziell als auch auf andere Weise: „In allen Toilettenkabinen des Stadions hängen unsere Plakate“, so Oelerich. Sie zeigten Fotos und Texte zu Betroffenen sowie Hinweise auf Treffen und das Spendenkonto. 30 bis 40 Personen fänden sich mittlerweile zu den monatlichen Stammtischen im St.-Pauli-Fanladen ein. Das Orga-Team bestehe aus etwa 20 Personen, die sich neben ihren Berufen ehrenamtlich für St. Depri engagierten – darunter seien Therapeuten, Ärzte, Krankenschwestern, Betroffene und Angehörige. Zu den Angeboten gehörten ein Patenprojekt, gemeinsames Briefe-Öffnen, ein wöchentliches, von einem Sporttherapeuten geleitetes, kostenloses Sport- programm sowie Hilfe bei der Vermittlung in Therapien. Geplant seien zudem Kurse für progressive Muskelentspannung.
„Bei jedem Stammtisch gibt es einen Fachvortrag“, so Tomczak. Themen seien etwa Schlaf, Sucht, Medikamente, Suizidalität, Selbsthilfe, Bürokratie, Depressionen oder andere psychische Erkrankungen. „Wichtige Themen werden wiederholt.“ Zudem gebe es eine rote Box, über die anonym Themenwünsche geäußert werden können – aber auch Kritik, Fragen und sonstige Anregungen. Die Stimmung beim Stammtisch sei locker und familiär, alle duzten sich. Es werde gelacht und diskutiert. „Aber es wird nichts bagatellisiert“, so Oelerich. Bei schwierigen Themen wie Suizid könne es auch sehr emotional werden. Das gemeinsame Briefe-Öffnen werde ebenfalls im Fanladen angeboten, zeitlich direkt vorm Stammtisch. „In stark depressiven Phasen öffnen die Leute ihre Post nicht mehr“, so Tomczak. Gemeinsam sei dies leichter.
Das Thema sei jedoch sehr schambesetzt, ähnlich wie andere typische Folgen von Depressionen wie etwa Schulden, Jobverlust oder das Unvermögen, den eigenen Haushalt auf die Reihe zu bekommen. Es bestehe eine große Hemmschwelle, sich Fremden zu offenbaren. „Daher bieten wir auch an, sich für individuelle Absprachen per E-Mail an uns zu wenden.“ Menschen, die unter Depressionen leiden, seien zum Teil derartig antriebslos, dass es ihnen nicht mehr gelinge, das Haus zu verlassen. Hier helfe das Patenprojekt: „Unsere Paten holen die Betroffenen von zu Hause ab und begleiten sie ins Stadion und zu Stammtischbesuchen.“
Bereits 60 Erstgespräche in Therapien vermittelt
Ein großes Problem für Menschen mit Depressionen sei auch die Schwierigkeit, in Therapie zu gelangen. „Um einen Platz zu bekommen, darf man eigentlich nicht depressiv sein“, so Oelerich. Die Suche sei frustrierend, schamauslösend und langwierig. Immer wieder stoße man auf Anrufbeantworter und herausfordernde Sprechzeiten. „Oft verschlechtert sich die Symptomatik während- dessen, und ein Klinikaufenthalt wird erforderlich.“ Über sein Netzwerk versuche der Verein, Kontakt zu Therapeuten zu vermitteln. „Wir konnten bereits 60 Erstgespräche vermitteln“, so Oelerich.
Unter Umständen könne St. Depri auch die Kosten dafür übernehmen. Sozialpädagogin Kristina Tomczak gehört selbst zur Gruppe der Betroffenen und engagiert sich bei St. Depri unter anderem im Bereich Briefe-Öffnen. „St. Depri wirkt“, sagt Tomczak aus eigener Erfahrung. Anfangs sei der Verein eine große Hilfe bei ihrer persönlichen Trauerbewältigung gewesen. Doch es tue ihr auch gut, sich für andere zu engagieren. „Die Arbeit hilft mir und gibt mir Antrieb.“ Es sei gut, etwas für andere tun zu können. Darüber hinaus sei sie selbst Nutznießerin der bei den Stammtischen ausgegebenen Informationen.
Für sie sei es besonders wichtig, Depressionen als Krankheit anzuerkennen. „Man ist krank.“ Das müsse auch der Erkrankte selbst erkennen. Depressiv sei nicht bloß „schlecht drauf“. Und man sei auch nicht selbst schuld. „Wer merkt, dass er nicht mehr funktioniert, der verfällt oft in Grübelschleifen“, so Oelerich. Jeder habe die Werte in unserer Gesellschaft verinnerlicht. Depressive fühlten sich daher schon von innen heraus oft nutzlos und inkompetent, was zu Selbstvorwürfen führe. Von außen kämen nicht selten abwertende Urteile hinzu. Es helfe nicht zu sagen: „Reiß dich doch mal zusammen!“ Vieles sei nett gemeint, aber nicht hilfreich, nicht einmal ein aufmunterndes „Wird schon wieder.“ Im Laufe einer Depression gingen daher viele Freundschaften kaputt. Effektiver sei es, einfach nur verständnisvoll und emphatisch zu sein. Und wer unter Depressionen leidet, solle verinnerlichen: „Es ist okay, Hilfe anzunehmen.“
Inzwischen hat der Verein ein gewisses Echo hervorgerufen. „St. Depri ist in Deutschland ein einzigartiges Projekt“, so Tomczak. Es habe sich auch schon im Ausland präsentiert und sei dabei auf großes Interesse und positives Feedback gestoßen. Sogar die DGPPN, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, interessiere sich für den Verein. „Das ist für uns ein Ritterschlag“, so Oelerich. Ein Folgeprojekt sei inzwischen im belgischen Gent entstanden. „Auch andere sollten die Idee aufgreifen.“ Weitere Informationen und das Spendenkonto von St. Depri finden Sie im Internet unter www.st-depri.de. Zum Stammtisch trifft man sich an jedem dritten Donnerstag im Monat ab 19.30 Uhr im St.-Pauli-Fanladen in der Gegengeraden des Stadions am Millerntor.