Der Arm des Vatikan reichte offenbar bis Paderborn: Kinos mussten den irischen Film „Die unbarmherzigen Schwestern“ unter Verschluss halten, so die Klage einer Anruferin beim Spiegel-Redakteur Peter Wensierski – der Film thematisiert die Zustände in katholischen Fürsorgeheimen Irlands.
„Dieses Telefonat war für mich Anlass zu weiterer Recherche über deutsche Heimzustände“, erinnert sich Wensierski. Eine Recherche fast ohne Ergebnisse: „Seit 1971 hatte ich außer einigen Fachartikeln nichts finden können“, sagt er und schrieb einen ersten Artikel. Das Ergebnis war eine ungeheure Flut an Zuschriften – ein großes Schweigen schien damit durchbrochen zu sein. Wensierski vertiefte sich in das Thema. Folterähnliche Zustände, systematische Entwertung von Jugendlichen: Die Ergebnisse überstiegen bislang Bekanntes. 2006 machte er mit dem Buch „Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ das bis dato weitgehend unbekannte Schicksal der Heimkinder der 1950er- und 1960er-Jahre publik. Hunderte frühere Heimkinder hatten sich daraufhin bei ihm gemeldet. „Das Buch hatte uns endlich eine Sprache gegeben“, so das ehemalige Heimkind Wolfgang Rosenkötter. Wensierski traf sich mit vielen, half ihnen der Spurensuche in der Vergangenheit und forschte in Akten und Dokumenten. 2012 wurde er für sein Engagement mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens ausgezeichnet.
In der Patriotischen Gesellschaft las Wensierski Abschnitte aus seinem Buch. „Es gab nichts, wofür man keine Schläge bekam“, heißt es dort von einem Heim. „Die Kinder standen zum Prügeln Schlange. Die Weidenruten mussten sie selbst mitbringen.“ Im Buch schildert Wensierski unter anderem die Leidenswege der Protagonistinnen Marion und Gundula, die im Evangelischen Kinderheim Scherfede untergebracht waren. „Viele der ehemaligen Heimkinder hatten resigniert: ,Uns glaubt sowieso keiner‘“, beschreibt Wensierski die damals verbreitete Stimmung. „Das Schweigen der Betroffenen kam den Tätern zurecht.“ Umso wirkungsvoller sei es gewesen, dass er beispielsweise bei seinen Recherchen in Schwerfede auf das Tagebuch der früheren Köchin stieß. „Die Aufzeichnungen belegten die Aussagen der ehemaligen Heimkinder. „Für mich war die Recherche wie eine Expedition in völlig unbekanntem Gelände.“
Die schwarze Pädagogik in der Heimerziehung habe in Deutschland eine bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts reichende Tradition, die ihren absoluten Tiefpunkt in der Nazizeit gefunden habe. Wensierski erinnerte an die Tötung „unwerten Lebens“. Die in vielen Heimen der Nachkriegszeit die Tagesordnung bestimmende harte Arbeit der Kinder und Jugendlichen habe viele Nutznießer gehabt, ob Bauernhöfe oder große Unternehmen. „Heute kann sich in den Firmen allerdings niemand mehr daran erinnern“, so Wensierski.
Die Zustände in den Heimen änderten sich langsam. Einen ersten Anstoß hatte hier die „Heimkampagne“ aus Reihen der Studentenbewegung gegeben. Diese Kampagne wurde mitausgelöst von den späteren Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Astrid Proll und Ulrike Meinhof, Drehbuchautorin es des Fernsehfilms „Bambule“ (1970).
Das Thema allerdings, so Wensierski, sei noch nicht vom Tisch. Bis heute erhalte er Brief von ehemaligen Heimkindern.