Der Mindestlohn steigt im Oktober auf 12 Euro – jedoch nicht in Behindertenwerkstätten. Dort wird im Schnitt für 1,50 Euro die Stunde gearbeitet. Die Arbeitsbedingungen sind rau. Auf Twitter machen Menschen mit Behinderung ihrem Ärger Luft.
Sven Papenbrock blüht in seinem neuen Beruf bei der gemeinnützigen Organisation Sozialhelden auf: „Hier kann ich etwas bewirken und meine Fähigkeiten einbringen“, sagt der 32-Jährige. Nach 13 Jahren Arbeit in einer Behindertenwerkstatt hat er ein Praktikum bei den Sozialhelden in Berlin absolviert und ist seit Mai dieses Jahres festangestellt. „Meine Aufgaben hier sind vielfältig und abwechslungsreich“, sagt Papenbrock.
Er hätte gerne früher aufgehört, in der Werkstatt zu arbeiten, sagt Papenbrock. „Ich habe nur 85 Cent in der Stunde erhalten.“ In Deutschland arbeiten rund 320.000 Menschen in Behindertenwerkstätten. Im Durchschnitt verdienen sie dort um die 220 Euro im Monat.
Werkstätten für behinderte Menschen stehen schon lange in der Kritik. In den sozialen Medien wurde nun eine Diskussion losgetreten. Unter dem Hashtag #IhrBeutetUnsAus klären Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, auf und machen ihrem Ärger Luft.
Anne Gersdorff, Referentin für Arbeit bei der Langzeit-Kampagne JOBinklusive, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Das Konzept von Behindertenwerkstätten wird zu wenig hinterfragt. Zudem fehlt es an Transparenz.“ Viele Unternehmen, die mit Behindertenwerkstätten kooperieren, wüssten oft nicht, dass die Beschäftigten lediglich als „arbeitnehmerähnlich“ behandelt werden. Das führe dazu, dass sie weniger Rechte und keinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben.
Die Bedingungen in den Werkstätten seien hart. Von Mobbing über Ausgrenzung bis hin zu Gewalt sei alles dabei: „Es gibt Personal, das Druck auf die Beschäftigten ausübt und ihnen einredet, dass sie es in der richtigen Arbeitswelt nicht schaffen würden“, sagt Gersdorff. Auch Papenbrock erinnert sich an Mobbing: „Mir wurde immer wieder gesagt: Wenn mir etwas nicht passe, könne ich ja gehen und es auf dem richtigen Arbeitsmarkt versuchen.“
Den Hashtag #IhrBeutetUnsAus und die dadurch angestoßene Diskussion findet er gut, sie geht ihm aber nicht weit genug. „Das Problem ist, dass es die richtigen Personen und die Politik erreichen muss“, sagt Papenbrock. Die Debatte bleibe viel zu oft in Kreisen hängen, in denen die Problematik lange bekannt sei.
Auf der Internetseite JOBinklusive.org haben Aktivistinnen und Aktivisten ihre Forderungen niedergeschrieben. Neben dem gesetzlichen Mindestlohn fordern sie finanzielle Anreize für erfolgreiche Vermittlungen von Werkstattbeschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Vermittlungsquote von Beschäftigten aus den Werkstätten auf den Arbeitsmarkt liege bei nur einem Prozent. „Wir haben außerdem einen Aufruf gestartet, dass Leute ihre Lieblingsunternehmen anschreiben und auf die Bedingungen in Werkstätten aufmerksam machen sollen“, sagt Gersdorff.
Die JOBinklusive-Referentin fügt hinzu: „Wer einmal in der Werkstatt ist, kommt nicht mehr heraus.“ Es braucht ihrer Meinung nach unabhängige Beratungsstellen, an die sich die Beschäftigten wenden können, um den Übergang zu meistern.
Firmen sind verpflichtet, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Die gesetzliche Quote liegt bei mindestens fünf Prozent. Wenn Unternehmen sie nicht erfüllen, müssen sie eine Ausgleichsabgabe zahlen. Gersdorff kritisiert: „Firmen können sich regelrecht freikaufen.“ Dadurch entstehe Exklusion statt Inklusion.
Sie hofft, mit der neuen Bundesregierung werde sich die Situation für Menschen mit Behinderung verbessern: „Was im Koalitionsvertrag steht, hört sich nicht schlecht an.“ So solle etwa die Ausrichtung von Werkstätten für behinderte Menschen stärker auf die Integration sowie die Begleitung von Beschäftigungsverhältnissen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt liegen.
Sven Papenbrock weist auf den Twitter-Aufruf #StelltUnsEin hin und appelliert an Firmen: „Stellen Sie Menschen mit Behinderung direkt ein, geben Sie uns eine Chance!“ (Stefanie Unbehauen(epd)