Pandemien hat es in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben. Den größten Schrecken verbreitete der Schwarze Tod, der zwischen 1347 und 1352 wohl über 25 Millionen Menschen, ein Drittel der Bevölkerung Europas, tötete. Auslöser war das durch Flöhe übertragene Pest-Bakterium Yersinia pestis, das bereits im 6. Jahrhundert n. Chr. Weltgeschichte schrieb: Es entvölkerte ab 535 das Byzantinische Weltreich und den Nahen und Mittleren Osten und verhinderte die Rückeroberung Westroms. Der Weg für den Siegeszug des Islams war frei. In jüngerer Zeit haben vor allem die Influenza-Pandemien die Welt in Atem gehalten. Die größte Influenza-Pandemie, die auch Deutschland mit voller Wucht traf, war die Spanische Grippe. Sie trat innerhalb eines Jahres in drei Wellen auf. Welche Lehren können aus der Geschichte der Pandemien gezogen werden?
Der Tod kam schnell. Oft schon nach zwei Tagen. Was nach einem plötzlichen Krankheitsbeginn mit Kopf- und Gliederschmerzen begann, von hohem Fieber und starkem, trockenem Reizhusten begleitet wurde endete oft mit akutem Sauerstoffmangel, die Haut der Erkrankten färbte sich dunkelblau, manche bluteten aus Nase und Ohren. Ihren Ursprung hatte die Spanische Grippe, die innerhalb eines Jahres in drei Wellen auftrat, in den USA, Soldaten trugen sie nach Europa. Dank der liberalen spanischen Zensur wurde in den dortigen Medien erstmals über die Seuche berichtet – und diese bekam so ihren irreführenden Namen. Weltweit fielen der Spanischen Grippe zwischen 1918 und 1920 wohl 27 bis 50 Millionen Menschen zum Opfer, es könnten aber auch 100 Millionen gewesen sein, weil in Afrika und Asien viele Betroffene ungezählt blieben.
Dass im öffentlichen Bewusstsein diese Influenza-Pandemie so wenig Spuren hinterlassen hat, ist umso erstaunlicher, da die Spanische Grippe mehr Menschen dahinraffte als im 1. Weltkrieg ums Leben kamen (17 Millionen). Ein Drittel der Deutschen erkrankten an ihr, um die 500.000 starben. Eine Besonderheit und vielleicht das besonders erschreckende an dieser Grippe war, dass sie vor allem Todesopfer in der Gruppe der gesunden 20- bis 40-Jährigen forderte – die US-amerikanische Armee verlor etwa so viele Infanterie-Soldaten durch die Grippe wie durch die Kampfhandlungen während des Ersten Weltkrieges. Der Grund hierfür war eine Überreaktion des Immunsystems, die zum raschen Erstickungstod führte.
Unterschiedlicher Umgang zweier Städte brandaktuell
In den heutigen Tagen ist die Spanische Grippe wieder von besonderem Interesse. Auch, weil der unterschiedliche Umgang zweier US-amerikanischer Städte mit ihr brandaktuell ist. Während St. Louis auf Eindämmung und Quarantäne setzte und Schulen, Kinos, Bibliotheken und Kirchen schloss, ließ Philadelphia alles laufen. Sogar eine große Militärparade zog durch die Stadt, 200.000 Schaulustige drängelten sich am Straßenrand – mit furchtbaren Folgen. Nach drei Tagen waren bereits die Krankenhäuser überfüllt, innerhalb einer Woche hatten sich 45.000 Menschen infiziert. Mit 12.000 Toten erlangte Philadelphia zu trauriger Berühmtheit – als Beispiel, wie man es nicht machen darf. St. Louis, das achtmal weniger Todesfälle als Philadelphia zu verzeichnen hatte, wurde dagegen zum Vorbild für Seuchen-Prävention.
Im Deutschen Reich konnten sich die zuständigen lokalen Verwaltungen übrigens nicht zu einem Verbot von Versammlungen, zur Schließung von Gaststätten und zum Aussetzen von Gottesdiensten durchringen. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, etwa bei der Post und dem öffentlichen Nahverkehr und das Herunterfahren der Produktion in Industrie und Landwirtschaft waren nicht etwa Verordnungen, sondern dem Ausfall von Arbeitskräften geschuldet.
Wie Menschen mit den Schrecken einer Pandemie umgehen, lässt sich am Beispiel der Spanischen Grippe ebenfalls studieren. Verschwörungstheoretiker gab es schon damals, und Sündenböcke wurden zu allen Zeiten gesucht – während der Pest im Mittelalter wurden unter dem Vorwurf der Brunnenvergiftung ganze Judengemeinden ausgerottet. In den USA, das 675.000 zivile Opfer der Spanischen Grippe zu beklagen hatte, wurde Kriegsgegner Deutschland für den Ausbruch verantwortlich gemacht. Deutsche Spione wurden verdächtigt, das Virus verbreitet zu haben, es wurde gar behauptet, das Bayer-Produkt Aspirin sei manipuliert worden. Auch Frankreich beschuldigte Deutschland.
Verschwörungstheoretiker gab es schon damals
Heute machen Repräsentanten des Corona-Ursprungslands China die USA für den Ausbruch der Seuche verantwortlich, während der US-Präsident, dessen Großvater übrigens an der Spanischen Grippe starb, von Versäumnissen bei der Seuchenprävention mit Schuldzuweisungen an die WHO abzulenken versucht. Das Unerklärliche verlangt nach Antworten, gerade wenn Seuchen ansatzlos und albtraumhaft über Gesellschaften hereinbrechen: Der sogenannte Englische Schweiß soll im 15. und 16. Jahrhundert noch schneller als die Pest getötet haben. Es vergingen vom Auftreten der ersten Symptome bis zum Eintritt des Todes oft nur wenige Stunden. Im Juli 1529 erreichte die Krankheit Hamburg, 1100 Menschen starben in 22 Tagen. Bis heute weiß man nicht, um was für eine Erkrankung es sich handelte und warum sie plötzlich verschwand und nie wieder auftauchte.
Pandemien oder lokal begrenzte Seuchen hatten immer Folgen für die betroffenen Gesellschaften. Während die Pest die mittelalterliche Feudalordnung zerstörte, weil dem Rittertum die Arbeitskräfte abhanden gekommen waren und die nachfolgenden fürstlichen Territorialstaaten u.a. auch mit Quarantänemaßnahmen die Seuchen zu bekämpfen versuchten, wurden die indigenen Völker Amerikas durch von Europäern eingeschleppte Krankheiten wie Pocken und Masern an den Rand der Ausrottung gebracht. Die Großreiche der Mayas und Azteken wurden zerstört, die indigene Bevölkerung versank im Elend von Armut und Sklaverei. Im Brasilien der Jetztzeit unter dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro, der die Corona-Pandemie verharmlost, den Ureinwohnern immer mehr Rechte entzieht und ihren Lebensraum zerstören lässt, droht sich diese Geschichte zu wiederholen.
Sinnvolle Schlüsse aus den Seuchenzügen
Die Menschheit zog aber auch immer wieder sinnvolle Schlüsse aus den Seuchenzügen. Zum Beispiel Hamburg: Die Choleraepidemie von 1892 traf eine Stadt, die das Trinkwasser ungefiltert aus der Elbe entnahm und in der in den Gängevierteln unhaltbare hygienische Bedingungen herrschten. Robert Koch war nach dem Krisenbesuch der Hansestadt fassungslos und schrieb nach Berlin: „Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln, die man mir gezeigt hat, am Hafen, an der Steinstraße, an der Spitalerstraße oder an der Niedernstraße. […] Ich vergesse, daß ich mich in Europa befinde.“ 8600 Hamburger mussten auch deswegen sterben, weil der sparsame Senat sich nicht auf den Bau einer Filteranlage einigen konnte. Nun aber handelte er: Die Gängeviertel wurden saniert oder abgerissen, die erste Müllverbrennungsanlage Deutschlands errichtet, ein Filtrierwerk der Hamburger Wasserwerke fertiggestellt, das Institut für Hygiene und Umwelt gegründet. Und es wurden bereits vorausschauend die Grundlagen für hygienischere Wohnbedingungen gelegt.
Auch die Spanische Grippe kurbelte in der Weimarer Zeit den sozialen Wohnungsbau an, um Arbeiter den krankmachenden Lebensverhältnissen zu entreißen. Die medizinische Forschung wurde durch die Cholera und die Spanische Grippe weiter vorangetrieben. Der Coronavirus SARS-CoV-2 wird sicherlich ebenfalls für medizinischen Fortschritt sorgen – aber auch die Digitalisierung der Arbeitswelt weiter beschleunigen und vielleicht für ein Umdenken im Umgang mit der Natur sorgen. Hoffnung besteht jedenfalls, denn die Geschichte hat gezeigt, dass Gesellschaften gestärkt durch wirtschaftliche und soziale Innovationen aus Krisen wie einer Pandemie hervorgehen können. Michael Freitag