„Nüchtern sein ist so schön!”

Mika Döring (li.) bezeichnet sich als „ausgebildete Coachin, individualpsychologische Beraterin (i.A.), Podcasterin und Redakteurin“. Mia Gatow lebt als freie Autorin und Designerin in Berlin. Foto: hin

Alkohol = Entzugsklinik und Entwöhnung bzw. lange Reha oder, etwas niedrigschwelliger, Suchtberatungsstelle – diese Gleichung stimmt für manche (Ex-) Konsumierende nicht (mehr). Seit einigen Jahren verbreitet sich – ausgehend von den angelsächsischen Ländern – vor allem unter Jüngeren und Frauen eine sogenannte Nüchternheitsbewegung („Sober Curious“). Das steht für Menschen, die sich außerhalb des professionellen Systems Hilfe suchen oder – unterstützt durch eine Vielzahl an Büchern und Podcasts, die es inzwischen gibt – allein den Weg in die Abstinenz suchen und finden, sozusagen „Selbstheilerinnen“ werden. Was dahinter steckt, worum es dabei geht und für wen sich dieser Weg aus dem Alkohol lohnt und wo er an Grenzen stößt, war Thema bei der (Frauen-) Veranstaltung „Frauen und Alkohol“, zu dem die Hamburger Suchtberatungsstelle „Frauenperspektiven“ im Rahmen der Aktionswoche Alkohol ins Ottensener Lichtmesskino geladen hatte.

Sie heißen Mia Gatow und Mika Döring – und haben seit 2020 unter dem Titel „Sodaklub“ fast 200 Podcasts aufgenommen. Sie stehen für eine bestimmte (Sucht-) Klientel: GroßstädterInnen, jung, kreativ. Und sie hadern mit den herkömmlichen Bildern, die häufig mit Sucht verbunden werden: etwa Männer am Ende, die „in der Gosse“ liegen. Während es von Nüchternheit keine positiven Bilder gebe, kritisierte Mia. Bilder von Sucht seien sehr männlich geprägt, gerade bei Frauen gehe es viel um Scham, konstatierte auch Antje Homann, die bei „Frauenperspektiven“ Mädchen und Frauen berät. 

Aber wie hört Frau nun mit dem trinken auf, welche Strategien gibt es? Mia kommt aus einer Familie mit Alkoholikern, berichtete sie, sie habe viel gelesen und gehört. Daniel Schreiber natürlich mit seinem Buch „Nüchtern“, die amerikanischen „sobriety memories“ (Nüchternheitserinnerungen), Podcasts darüber, wie man dated ohne zu trinken oder was man auf Partys ohne Alkohol macht. Dann kam der  Nüchterntag. Verkatert sei sie gewesen – im August 2017 war das – und  die Anonymen Alkoholiker standen ohnehin auf ihrer To-Do-Liste. Im betäubten Zustand sei sie dann in das  ihrem Büro nächst gelegene AA-Meeting in einem Kirchenraum gegangen. Und fühlte sich dort gleich aufgehoben. „Ich wusste, mit meiner Beziehung zum Alkohol bin ich hier richtig. Ich war auf ‚ne Art berauscht – von dem Gefühl von Klarheit der Leichtigkeit“, die dadurch entstehe, dass man kapituliert, beschrieb sie ihren Einstieg in den Ausstieg im ersten Podcast von 2020.

Eine Kernthese: Nüchtern werden ist ein rebellischer Akt. 

Die freie Autorin trank, wie sie in Hamburg sagte, um exzessiv, um „Rampensau“ zu sein, dabei sei sie eigentlich introvertiert. Inzwischen hat sie sich als Schriftstellerin der Geschichte ihrer Alkoholproblematik gestellt. „Rausch und Klarheit – Der Alkohol, meine Familie, die Gesellschaft und ich“ heißt ihr in diesem Herbst erscheinendes Buch. Darin outet sie sich als jüngste Tochter in einer langen „Dynastie“ von Trinkenden. Ihre Kernthese: Nüchtern werden ist ein rebellischer Akt. 

Anders Mika. Sie hörte letztlich allein auf. Erinnert das letzte Glas als einen Rausch von Selbstgebranntem in Serbien, wo sie mit ihrem Freund Urlaub machte und krank wurde. Und nicht mehr trank – was sie wie Mia vorher nicht täglich tat.

Nach dem Urlaub bleibt sie dabei. Und cancelt konsequent gleich drei „toxische Sachen“: Alkohol, Nikotin und Stress. Sie kündigt. „Wäre ich in dem Job geblieben, würde ich noch trinken.“ Später erfährt sie, dass bei ihr Reizüberflutung in Folge von ADHS eine Rolle spielte. Die Verlangsamung von Gedanken im Zuge von einem Kater sei oft eine „Ruheinsel“ gewesen. Oft seien es Frauen mit diesen Symptomen, die eigentlich Hilfe bräuchten, sich aber nicht als Süchtige empfänden.

Mika Döring betonte bei der Veranstaltung die Bedeutung von sicheren Räumen für Frauen, die oft Leidtragende von Gewalt seien und untereinander oft eine andere Atmosphäre und Intimität verbreiten würden. Männer würden aus anderen Gründen trinken, ergänzte Mia, eher, um sich „gefühllos“ zu machen. „Frauen trinken sich eher passend.“ Hier passt dann das moderne Stichwort „mental load“ – gemeint ist die Belastung, die durch das Organisieren von Alltagsaufgaben entsteht – Ausstieg aus dem Hamsterrad durch abendliches Weintrinken.

„Schade, dass nur Sucht und Verzicht gezeigt werden”

Weiterer Teil des Ausstiegs: Umstrukturierung. Als „den Klassiker“ bezeichnete es Mia, dass sie die Leute, mit denen sie trank, später nicht mehr sah. Aber es kamen neue Leute dazu. Inzwischen trinke die Mehrheit in ihrem Umfeld gar nicht mehr. 

Mia Gatow und Mika Döring sind Nüchtern-Vorbilder – und schwärmen regelrecht vom abstinenten Leben. „Nüchtern sein ist so schön, das macht es einem leicht“, so Mia. Es sei schade, dass nur Sucht und Verzicht gezeigt würden. Wobei: Ganz so einfach ist es denn doch nicht. Herausfordernd seien die Gefühle gewesen, die sie gespürt habe. „Für mich war Wut ein wichtiges Thema, das hat mir Angst gemacht“, so Mika. 

Nadja Borlinghaus, Fachleiterin von „Frauenperspektiven“, machte deutlich, dass die beiden Podcasterinnen eine gewisse Grundstabilität und viele Ressourcen mitbrächten. „Nicht alle, die zu uns kommen, sind so aufgestellt.“ Frauen mit höherer Belastung bräuchten dann vielleicht doch was anderes. Die Klientinnen der Beratungsstelle kämen auch meist erst später, wenn sich die Sucht schon chronifiziert habe oder negative Konsequenzen zeige, sagten die beiden Suchtberaterinnen später gegenüber dem EPPENDORFER. Oft seien die Frauen psychisch sehr belastet, etwa durch Traumata. Bei komorbider Erkrankung benötige es professionelle Hilfe, machten sie deutlich.

Skeptisch äußerten sich die professionellen Beraterinnen gegenüber Coaching-Angeboten von „Aussteigerinnen“, die z.B. für knapp 300 Euro ein Online-Selbsthilfe-Begleitprogramm für 30 Tage ohne Alkohol anbieten. Professionelle Hilfe dürfe nicht mit Selbsthilfe verwechselt werden. Für viele Klientinnen von Frauenperspektiven seien solche Selbsthilfeangebote nicht bezahlbar. Das kriege was Elitäres. Für manche könne es hingegen der richtige Weg sein. Und allen könnten die „Nüchtern“-Podcasts und Bücher hilfreiche Anregungen und Unterstützung bieten.        Anke Hinrichs

Literatur & Podcasts:

– Leslie Jamison: Die Klarheit – Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung, Suhrkamp Taschenbuch 2020, 18 Euro.

– Anni Grace: Einfach nüchtern! Freiheit, Glück und ein besseres Leben ohne Alkohol, Unimedica 2022, 344 S.,  19,80 Euro.

– Catherine Gray: Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein. Frei und glücklich – ein Leben ohne Alkohol, mvg-Verlag 2018, TB, 16,99 Euro

– Natalie Stüben: Ohne Alkohol: Die beste Entscheidung meines Lebens: Erkenntnisse, die ich gern früher gehabt hätte, kailasch Verlag 2021, 16 Euro.

– Allen Carr: Endlich ohne Alkohol, Goldmann Verlag 2013, 12 Euro.

– https://www.sodaklub.com – sowie diverse weitere Podcasts zum Thema nüchtern …                    (rd)