Kopfpauschalen statt Zeitbudgets

Kopfpauschale statt trägerindividuelles Zeit-Budget: Kalt erwischt wurden die gemeindepsychiatrischen Träger zum Jahresende von einer geplanten Finanzierungs-Neuregelung für die ambulante Sozialpsychiatrie (ASP). Schon zum 1. Januar 2017 will die Sozialbehörde neue Regeln einführen, die nach Ansicht von Kritikern unter den Trägern Gewinner und Verlierer erzeugen und die Menschen mit besonders hohem Betreuungsbedarf benachteiligen werden. Die Hamburgische Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (HGSP) sowie auch der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener und der Angehörigenverband kritisierten die ihnen erst Anfang November bekannt gewordene Neuregelung, für die die so genannte Vertragskommission bereits grünes Licht gegeben hatte und die kurz nach Redaktionsschluss am 13. Dezember abschließend beschlossen werden sollte.

HAMBURG. Als das Finanzierungssystem vor drei Jahren umgestellt wurde, stellte dies die Trägerlandschaft vor grundlegende Veränderungen. „Aber wir waren fachlich bereit den Weg zu gehen, weil wir die Zusammenführung der konkurrierenden Systeme PPM (Personenbezogene Hilfen für psychisch kranke Menschen), Betreutes Wohnen (BeWO) und Psychosoziale Kontaktstellen (PSK) richtig fanden“, so HGSP-Vorstand Michael Schweiger. Abgerechnet wurde seither nach pauschalierten Zeitsätzen. Grundlage der Finanzierung bei Einführung von ASP vor drei Jahren waren die Auslastungszahlen. Dabei wurden trägerindividuelle Besonderheiten berücksichtigt. Etwa wenn ein Träger besonders viel psychotherapeutisch ausgebildetes Personal vorhält oder Wohngemeinschaften im Schichtdienst betreut. Das neue Credo der Behörde lautet nun: eine Leistung, ein Preis. Das Gesamt-ASP-Budget lag laut Behörde 2016 bei 71,1 Millionen Euro. Das Gesamt-Budget soll künftig durch die Anzahl an Klienten geteilt werden, die wiederum in drei Gruppen geteilt werden sollen, so die HGSP: Grundbetreuungsbedarf bis 5,9 Stunden in der Woche (Jahrespauschale: ca. 10.000 Euro), intensiverer Betreuungsbedarf von mehr als 5,9 Stunden (Aufschlag von ca. 6500 Euro) sowie drittens die Nutzer niedrigschwelliger Gruppenangebote, für die keine Anträge gestellt, sondern die nur per Strichlisten erfasst werden (1500 Euro pro Klient und Jahr). Um dieses System ökonomisch auszureizen bestünde die Gefahr, so Schweiger, „dass psychisch kranke Menschen zukünftig nur niedrige Betreuungszeiten erhalten und dabei möglichst viele das System Eingliederungshilfe erreichen, bzw. dem präventiven Bereich zuzuordnen sind“. Sprich: Dass möglichst viel Menschen mit möglichst wenig Aufwand betreut werden. Was steckt hinter dem Ganzen? Die Kritiker vermuten, dass die Behörde Sorge vor einem starken Anstieg der Eingliederungshilfekosten hat, wie es schon bei den PPM-Maßnahmen geschah, deren Kosten bzw. Fallzahlen unaufhörlich in die Höhe kletterten. Zudem wird auf eine Kritik des Rechnungshofs verwiesen, der im Zusammenhang mit der ASP mangelnde Transparenz moniert habe.

Was die Kritiker besonders ärgert: Dass die Umstellung ohne qualitative Debatte „durchgezogen werden soll“, bevor darüber auch im Zusammenhang mit dem Psychiatrieplan diskutiert wurde. Im Zuge der Arbeiten an der Psychiatrieplanung – deren Zwischenbilanz am 15. Dezember präsentiert werden sollte – sei ja gerade ins Zentrum gestellt worden, wie man Anreize für verbindlichere Strukturen für Menschen mit intensiverem Betreuungsbedarf schaffen könne, was mit dem geplanten Finanzierungsmodell konter- kariert werde. Weiterer Kritikpunkt: Begleitend zur ASP-Einführung war an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) eine aufwändige Studie (BAESCAP) gestartet worden, um Wirkung und Qualität des neuen Systems zu evaluieren. „Und jetzt wird kurz vor Ende und einer kritischen Gesamtbilanz einfach tabula rasa gemacht und die Finanzierung für die nächsten fünf bis sechs Jahre festgelegt. Damit wird doch die Studie ad absurdum geführt“, so Schweiger. Für ihn und die HGSP ist klar: „Dieses System schafft negative Anreize und leistet zudem der Stigmatisierung Vorschub. Hier würden Gelder neu verteilt, „ohne dass eine fachliche, qualitative Debatte stattfindet“. Die Behörde mache Druck, drohe mit Kündigung der Verträge, berichtet Schweiger. Vor diesem Hintergrund hat die so genannte Vertrags- kommission (besetzt mit Vertretern der Behörde, der Freien Wohlfahrtsverbände und privater Anbieter) am 1. November bereits ein Eckpunktepapier beschlossen, in dem sie dem Ganzen zustimmte – nachdem eine Härtefall-Übergangsregelung ergänzt wurde. Die HGSP dagegen hoffte bis zuletzt, „dass die Einführung von Kopfpauschalen in der Sozialpsychiatrie noch einmal ausgesetzt wird und zunächst ein fachlicher, qualitativer Austausch unter Berücksichtigung von neuesten Forschungs- ergebnissen stattfindet“.
Anke Hinrichs

 

„Erheblich gerechter“

HAMBURG. Was ist der Grund für die umstrittene Finanzierungsumstellung? Dazu erklärte die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) auf EPPENDORFER-Anfrage: Grund sei unter anderem, „dass das bisherige System eine gesonderte Statistik erforderte, was sich in der Praxis als zu kompliziert und sehr arbeitsaufwändig erwiesen hat“. Die Zahl der Bewilligungen lasse sich für jeden einzelnen Anbieter „erheblich einfacher aus den vorhandenen Daten ermitteln“. Kritik, dass das neue System ohne qualitative Debatte umgesetzt werden solle, weist die BASFI zurück: Das neue System sei im Laufe des Jahres 2016 gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände (AGFW) entwickelt worden. „In diesem Rahmen fanden ausführliche Diskussionen – auch zu qualitativen Aspekten – statt“. Die Mitglieder hätten die Ergebnisse an die von ihnen vertretenen Einrichtungen weitergegeben. Die Abkehr von der Vereinbarung individueller Vergütungssätze für jede Einrichtung sei „gegenüber dem bisherigen Modell erheblich gerechter, weil gleiche Leistung auch mit der gleichen Vergütung entlohnt wird“, so die BASFI. Das Budget setze sich künftig nicht nur aus Fallpauschalen-Vergütung zusammen, verweist die Behörde auf die Übergangsregelung. Vielmehr würden Besonderheiten auch weiterhin bei der Budgetbildung berücksichtigt werden. Das könnten z.B. spezielle Angebote der Einrichtungen, ein besonders hoher Anteil von Nutzern des niedrigschwelligen Angebots oder von  Klienten mit hohem Betreuungsbedarf sein. „Sofern sich danach ergibt, dass dem jeweiligen Anbieter ein geringeres Budget zusteht als bisher, wird dies nicht sofort, sondern schrittweise über einen Zeitraum von bis zu sechs Jahren ausgeglichen“. Für die Leistungsberechtigten ändere sich nichts, betont die Behörde. Menschen mit hohem Betreuungsbedarf würden im Zuge des neuen Systems nicht benachteiligt. Vielmehr werde durch entsprechende Kalkulations-Elemente gewährleistet, dass auch dieser Personenkreis im Budget „angemessen berücksichtigt wird“.

 

(Beide Artikel erschienen in der Ausgabe 12/2016 / 1 / 2017)


 

Aktualisierung: Aus der Ausgabe 2 / 2017:

Kopfpauschalen: Umstrittene Finanzierungsregelung in Kraft

HAMBURG (hin). Kopfpauschale statt trägerindividuelles Zeit-Budget: die umstrittene Finanzierungs-Neuregelung für die ambulante Sozialpsychiatrie (ASP) in Hamburg (der EPPENDORFER berichtete in der vorigen Ausgabe) ist wie geplant und aller Kritik zum Trotz zum 1. Januar 2017 umgesetzt worden – mit leichten Veränderungen bei den Geldpauschalen. Die Sozialbehörde, die sich einer Kritik des Rechnungshofs an der bisherigen Regelung ausgesetzt sah, hatte auf mehr Gerechtigkeit des neuen Systems verwiesen. In einem Eckpunktepapier wurde zur Abmilderung von Härten eine fünfjährige Übergangsfrist vereinbart, innerhalb derer trägerspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden und jährlich maximal 20 Prozent an Verlusten zum Tragen kommen sollen. Im Ergebnis werde es Gewinner und Verlierer geben, hält die Hamburgische Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (HGSP) an ihrer Kritik fest. „Die traditionellen Träger des Betreuten Wohnens werden sich massiv umstellen und hohe Umsatzeinbußen in Kauf nehmen müssen, Gewinner sind eher die Träger, die bisher viele Klienten mit einem Bedarf von wenigen Stunden hatten“, so HGSP-Vorstand Helmut Krüger. Es gilt die Maßgabe, dass Klienten bedarfsgerecht betreut werden und unter der neuen pauschalen Finanzierung keinen Nachteil haben sollen. Aber: „Das Niveau insgesamt wird niedriger werden“, glaubt Krüger. Fairer wäre es gewesen, meint er, mehr zu differenzieren statt nur eine Gesamtpauschale für bis zu sechs Stunden zu schaffen. „Lediglich für weniger als 500 Klienten in Hamburg gibt es einen Zuschlag, wenn die Betreuung mehr als sechs Stunden die Woche umfasst. In den nächsten Wochen und Monaten soll sich klären, inwieweit die ,Einsparungen’ bei verschiedenen Trägern aufgefangen werden können“, so Krüger. Von der Neuregelung betroffen sind über 40 ASP-Träger. Es geht um ein Gesamtbudget von rund 65 Millionen Euro für ca. 6000 Klienten.