Geschätzt 500 bis 600 Menschen feierten am 6. April im vollbesetzten Hörsaal der Hamburger Universität mit einem trialogischen Symposium mit dem Titel „Auf der Spur des Morgensterns. Menschenwürde + Menschenrechte in der Psychiatrie“ den hundertsten Geburtstag von Dorothea Buck. Zusammen kamen Mitarbeiter des psychiatrischen Hilfesystems, Angehörige und viele viele Psychiatrie-Erfahrene, die teils von weit her angereist waren. Und auch die im Pflegeheim lebende Ikone der Betroffenenbewegung war live dabei: per Skype bzw. Konferenzsystem, das der Paritätische eigens organisiert hatte.
HAMBURG. Es war eine großartige Veranstaltung, da waren sich wohl alle einig. Und die zugeschaltete Geehrte war schlicht überwältigt, als sie sich am Ende aus dem Albertinenheim einmal mehr begeistert in die Kamera winkend verabschiedete. Nicht ohne abermals zu einer anderen, einer sprechenden, verstehenden und wertschätzenden Psychiatrie aufzurufen. Von den Teilnehmern des Symposiums wurde sie mit Standing ovations und einem bewegenden Abschiedskanon „Viel Glück und viel Segen auf all Deinen Wegen“ beschenkt. Doch zum Anfang. Den machte der engste Mitstreiter Prof. Thomas Bock, der auch durch die rund sechsstündige, durch kurze Beiträge sehr gut strukturierte und trialogisch vorbereitete Veranstaltung führte. Diese sollte zeigen, „woher wir kommen und wohin wir wollen“, so Bock. Sie war in drei Teile geteilt: Im Rückblick erinnerten sich Weggefährten an wichtige Etappen, dann gab es einen Film und „Buck live“ – eine Liveschalte ins Albertinenhaus, bevor dann am Ende prominente Vertreter der Szene einen trialogischen Ausblick auf die Zukunft – und ihre Wünsche daran gaben.
Alexandra Pohlmeier, die über Dorothea Buck den Film „Himmel und mehr” drehte und heute eng mit Buck befreundet ist, hob eingangs deren Kunst der Selbstironie und -reflexion hervor sowie „die Kunst, den Sinn der Psychose ergründet zu haben“. Sie wies auch auf die im Hörsaal präsentierte Bildhauerkunst der 100-Jährigen hin. Eine Skulptur mit dem Titel Schmerz entstand nach der ersten Psychose. Das Oevre blieb vergleichsweise klein, sie habe es zugunsten ihres Engagements für die Psychiatrie aufgegeben: Solange es an der einfachsten Menschlichkeit fehle, könne sie keine Kunst mehr machen, zitierte Pohlmeier die Künstlerin Buck.
Den Anfang des Rückblicks machte Prof. Klaus Dörner. Er erinnerte an die Anfänge, als Dorothea Buck in einem „stinknormalen Seminar auftauchte“ und sich zu Wort meldete, sie wolle auch gefragt werden. Daraus sei eine Bewegung geworden, „eine Art Therapie ohne Absicht“ mit dem Ziel, der Psychiatrie das Sprechen beizubringen. Ein Höhepunkt: der Weltkongress 1994 mit fast 5000 Teilnehmern, trialogisch und ohne Pharmawerbung, mit Dorothea Buck als erster psychiatrieerfahrener Rednerin.
Ruth Fricke vom Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen dankte der Ehrenvorsitzenden für ihr immer sehr großes Engagement, ebenso wie Anke Korsch vom Landesverband. Buck sei die „Übermutter“ und vermittele das Gefühl, „dass sie ihre schützende Hand über uns hält“. Fritz Bremer vom Paranus-Verlag erinnerte an die Vorgeschichte des 1990 erstmals erschienenen Buchs „Auf der Spur des Morgensterns“, das Paranus später neu herausgab und das als „Beschreibung einer Psychose von innen“ inzwischen „zur Geschichte der Wissenschaft“ gehöre, den Betroffenen Hoffnung vermittele und der Psychiatrie neue Wege gewiesen habe. Auch „Irre menschlich“ e.V., das trialogische Aufklärungsprojekt, wurde gestreift, musste gestreift werden, ging es doch aus dem Hamburger Psychoseseminar hervor. Von 100 trialogischen Schulprojekten und mindestens 50 Vereins- aktiven ist heute die Rede.
Aus Aachen angereist war Prof. Frank Schneider, Direktor der dortigen Unipsychiatrie und ehemaliger DGPPN-Präsident. Dorothea Buck habe ihn ermutigt, sich nach 60 Jahren als erster für die „Euthanasie“ zu entschuldigen. Weil nicht die Nazis, sondern die Psychiater die Täter, die Aktiven gewesen seien. Schneider besuchte Buck auch an ihrem früheren Wohnort, dem berühmten Gartenhaus in Schnelsen. Dort seien die Wurzeln für die DGPPN-Gedenkausstellung entstanden, die just zum 28. Mal eröffnet worden ist und inzwischen 300.000 Besucher erreicht habe.
Zeit für EX-IN, die in Hamburg von Gyöngyver Sielaff geleitete Genesungsbegleiter-Ausbildung, die jetzt in 11. Generation an den Start geht. Als Über- raschung hatten die ExInler einen Film gedreht, in dem sie nicht nur ein eigens gedichtetes Lied für Dorothea Buck sangen, sondern dem Anliegen der Verehrten auch ewige Treue schworen: „Wir kämpfen schon lange Deinen Kampf weiter und werden es immer tun!“ Die Kernbotschaften Bucks inklusive Szenen der kürzlichen Überreichung der „Medaille für Treue Arbeit im Dienste des Volkes in Silber“ für ihr Lebenswerk durch die Gesundheitssenatorin (der EPPENDORFER berichtete) hatte Alexandra Pohlmeier in einem Film zusammengeschnitten. Reden reden reden – und zuhören: die Psychose verstehen, nicht abspalten und ins normale Leben integrieren, so eine Kernbotschaft.
Der Block mit dem Ausblick in die Zukunft wurde von Valentin Aichele eröffnet, der die Monitoring-Stelle der UN-Be- hindertenrechtskonvention leitet. Er kritisierte u.a., dass viele Anregungen zur Vermeidung von Zwang bis heute nicht umgesetzt seien. Die Konvention bezeichnete er als „historischen Quantensprung“. Die anschließenden Wünsche von Fritz Bremer und Joachim Speicher, Hamburger Chef des Paritätischen, an das neue Bundesteilhabegesetz waren von Sorge überschattet. Über dem Gesetz schwebe der Satz von der „Abbremsung der Kostendynamik“, machte Bremer deutlich. Das Gesetz sollte zur Stärkung der Selbstbestimmungsrechte genutzt und in den unabhängigen Beratungsstellen müsse Peerberatung verankert werden, forderte er. Joachim Speicher sieht viele Chancen, vor allem für Beteiligung. Er hob die Stärke der Protestbewegung hervor, die zuletzt noch zu deutlichen Veränderungen geführt hatte. So etwas habe er noch nicht erlebt. Das sei ein historischer Erfolg, „und auch ein Erfolg des Wirkens von Dorothea Buck“.
Wünsche an die Zukunft der Psychiatrie standen am Schluss -–und bildeten all’ das ab, was derzeit an Fortschrittlichem und Modellhaftem diskutiert und formuliert – und seit Jahren gefordert wird. Dr. Hans-Jochim Meyer, Vorsitzender des Hamburger Angehörigenverbands, kritisierte u.a. mangelnde Krisenhilfe und die Atmosphäre von Akutstationen: „Wir setzen große Hoffnung auf Soteria“. In Sachen Hometreatment liegen viele Hoffnungen auf Möglichkeiten des neuen Entgeltsystems. Thomas Bock verwies für Hamburg auf kommende große Projekte wie die Soteria, die kommen werde und schließlich Pflicht sei, da die Betten dafür bereits eingeplant sind, das Modellprojekt RECOVER mit aufsuchender Krisenintervention, Telemedizin, Peerarbeit und „Stepped-Care“-Versorgung, bei der sich die Behandlungsintensität an der Schwere der Erkrankung orientiert. Das Ganze müsse trialogisch überwacht werden, forderte Bock, der seinen Chef vertreten musste. Dieser wurde von Dorothea Buck ausdrücklich vermisst: Der Chef der UKE-Psychiatrie, Prof. Jürgen Gallinat, weilte im April in Texas.
Viel von einer fortschrittlichen Psychiatrie erzählen konnte Martin Zinkler aus Heidenheim. Was dort zur Zwangsvermeidung praktiziert wird, gilt bundesweit als vorbildlich. Der Neuroleptikagebrauch sei inzwischen um die Hälfte reduziert worden. An Strategien, Zwangsmaßnahmen zu vermeiden, nannte er unter anderem: Behandlungsvereinbarungen, keine Spezialisierung und offene Stationen. Offenbar eine Seltenheit: 380 von 400 Kliniken würden immer noch mit geschlos- senen Stationen arbeiten. Die rechtliche Schwelle, Zwang anzuwenden, sei immer noch zu niedrig, meint Zinkler. Dass es nicht immer neuer Konzepte bedarf, sondern mitunter nur einer anderen Haltung, machte schließlich Gwen Schulz deutlich, die als Genesungsbegleiterin arbeitet: Wenn sie Profis auf Station in Glaskästen sitzend sehe, denke sie: „Warum geht ihr nicht raus und stellt Euch zur Verfügung? Wir wünschen uns, dass wir es wert sind, dass Ihr Euer Menschsein mit uns teilt“. Das Geheimnis der Genesungsbegleitung sei eine andere Haltung. Gwen Schulz ermunterte „die Profis“, „sich auf unsere Stufe zu begeben“ nach dem Motto: „Was ich nicht will, was man mir tue, das füg’ ich auch keinem anderen zu“. Anke Hinrichs