Am evangelischen Kirchentag sollen alle teilnehmen können. Dafür ist die Zusammenarbeit zwischen Menschen mit und ohne Behinderung nötig. Dennoch gibt es hier und dort Probleme.
Ein halber Zentimeter bringt Erwin Siegel um die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Hannover. Mit dem elektrischen Rollstuhl kann er den Höhenunterschied zwischen Zug und Bahnsteig nicht überwinden. Was dem 58-Jährigen normalerweise Schwierigkeiten bereiten würde, löst auf dem 39. Deutschen Evangelischen Kirchentag der Fahrdienst der Johanniter-Unfall-Hilfe. Dieser bringt mobilitätseingeschränkte Menschen mit Spezialfahrzeugen zu den Podien und Veranstaltungen, die zwischen Messegelände und Innenstadt stattfinden.
Generell sei der Kirchentag deutlich inklusiver geworden, sagt Siegel: „Bei meinem ersten Kirchentag vor zehn Jahren wussten viele Helfer noch nicht, wie sie mit meiner Behinderung umgehen sollen.“ In Hannover gibt es laut Siegel kaum noch Hürden. Die Bedürfnisse würden schon im Vorfeld abgeklärt. Zwar sei ihm versehentlich ein Feldbett bereitgestellt worden, auf dem er nicht schlafen könne. Aber die Helfer hätten sofort reagiert und ihm ein Luftbett besorgt. „Das wäre vor zehn Jahren anders gewesen“, sagt Siegel.
Gebärdensprache, Induktionsschleifen, Schriftdolmetscher
Der Kirchentag in Hannover ist mit verschiedenen Angeboten auf Besucherinnen und Besucher mit Behinderungen eingestellt. „Dem Kirchentag ist Inklusion aus christlicher Überzeugung heraus wichtig“, heißt es auf der Internetseite. Für viele der Veranstaltungen gibt es eine Übersetzung in Gebärdensprache, Induktionsschleifen erleichtern das Zuhören, es gibt barrierefreie Zugänge, Schriftdolmetscher machen das Gesprochene sichtbar. Außerdem sind auf den Podien Menschen mit verschiedenen Hintergründen vertreten, um „Inklusion sichtbarer und für die Gesellschaft greifbarer“ zu machen, heißt es seitens des Kirchentages.
Die Johanniter-Jugend bringt Menschen mit mobilen Einschränkungen von den Haltestellen zu den Veranstaltungen oder begleitet sie einen Tag lang über den Kirchentag. Die Studentin Eva Hankó aus Ulm ist eine der 170 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. „Ich stoße dabei auf Barrieren, die mir im Alltag nicht auffallen“, sagt die 23-Jährige. Als sie eine mobil eingeschränkte Person zum Eröffnungsgottesdienst auf dem Opernplatz begleitete, habe ihnen ein Zaun auf dem Bürgersteig den Weg versperrt: „Ich musste erstmal jemanden anrufen, der den Zaun entfernt.“ Für wenige hundert Meter hätten sie mehr als eine Viertelstunde gebraucht. „Ich lerne dadurch, die Welt aus einer neuen Perspektive zu sehen“, sagt Hankó.
Auch die 25-jährige Anne ist zum Helfen aus Jena angereist. Sie sitzt selbst im Rollstuhl. „Ich habe mir im Vorfeld schon Gedanken gemacht, ob das mit dem Rollstuhl klappt, bin bisher aber auf keine Probleme gestoßen.“ Mit ihrer Kommilitonin, die auch Anne heißt, lotst sie die Kirchentagsbesucher mit Schildern durch die Stadt. Sie trägt eine neonorange-farbene Ordnerweste. Viele Besucher nehmen ihre Hilfe gern in Anspruch, erkundigen sich nach dem Weg oder haben andere Fragen.
Erwin Siegel verkauft auf dem Messegelände die roten Kirchentagsschals. „So begegne ich Menschen, das macht den Kirchentag für mich aus, davon nehme ich ganz viel mit.“ Podien besucht er keine: „Ich habe eine Konzentrationsschwäche und kann da nicht zuhören.“ Hin und wieder besucht er Veranstaltungen in leichter Sprache. Sein Lieblingsprogrammpunkt ist aber der Abendsegen: „Da bin ich mit tausenden Menschen und gleichzeitig ganz bei mir.“
Monja Stolz/epd