„Ich warne vor Beliebigkeit”

Supervisorin und Managementtrainierin aus Hamburg: Gabriele Tergeist. Foto: Hinrichs

Worauf kommt es beim Führen sozialer Einrichtungen an, wie steht es um die Frauenfrage – und wo liegen die Herausforderungen der Zukunft? Darüber sprach der EPPENDORFER mit der Managementtrainerin und Supervisorin Gabriele Tergeist aus Hamburg. Sie beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Führen und Leiten in sozialen Organisationen. Sie coacht und supervidiert Chefs und Teams in ganz Deutschland und gibt Fortbildungen zum Thema. Ihre dabei gesammelten Erkenntnisse hat sie in einem im Balance Verlag (Psychiatrie-Verlag) erschienenen Buch* zusammengefasst.  

Supervisorin und Managementtrainierin aus Hamburg: Gabriele Tergeist. Foto: Hinrichs

EPPENDORFER: Führt man in sozialen Einrichtungen anders als in der freien Wirtschaft – und sitzen dort andere Persönlichkeiten an der Spitze?

GABRIELE TERGEIST: In Wirtschaftsunternehmen gilt in der Regel eine andere Wert- und Grundhaltung. Dort spielt die Gewinnerzielungsabsicht eine sehr große Rolle. Bei sozialen Einrichtungen stehen die Gesamtziele, der Auftrag und das Dasein für bestimmte Personenkreise mit Hilfs- bzw. Unterstützungsbedarf im Mittelpunkt. Es geht v.a. um das Angebot und die Umsetzung werteorientierter Arbeit im humanitären Sinne für eine bestimmte Klientel, was sich auch in der Philosophie der Einrichtung und in den Leitbildern widerspiegelt.

EPPENDORFER: Wie werden diese entwickelt, wie geht die Einigung auf Grundwerte vonstatten?

TERGEIST: Das ist verschieden. Es gibt Einrichtungen, in denen die Verantwortlichen im Führungskreis überlegen, ihre Aussagen zusammentragen und dann versuchen, die Ergebnisse von dort auf die nächsten Ebenen der Organisation zu transportieren. Manche – die auch in meinem Buch vorkommende Brücke Ostholstein zum Beispiel – binden von Anfang an Mitarbeiter, aber auch die Klienten mit ein. Wenn es um die Auftragsbestimmung oder um Zukunftsvisionen geht, oder um die Frage, für welchen Kundenkreis die Einrichtung arbeitet, und was die Ziele sind, wird das dann schon sehr lebendig. Das bedeutet mehr Arbeit und mehr Ringen um Positionen. Ich habe damit aber als Moderatorin gute Erfahrungen gemacht. Das bringt aus meiner Sicht mehr Identifikation als Leitlinien in Hochglanzbroschüren, die nur durch Leitungskräfte initiiert worden sind.

EPPENDORFER: Welche Probleme treten beim Führen bzw. Leiten häufig auf?

TERGEIST: Mit Veränderungen angemessen umzugehen und passende Strukturen zu schaffen. Wenn Umstrukturierungen stattfinden, z. B. eine Hierarchieebene gestrichen wird, kann es sein, dass sich die Teams ohne Leitung verloren fühlen, die muss man dann sozusagen befähigen, sich selbst zu führen. Auch Wachstum – die Übernahme zusätzlicher Angebote – kann schwierig werden, wenn die dafür nötigen qualitativen und personellen Grundlagen fehlen.

EPPENDORFER: Was hat sich im Vergleich zu vor 20 Jahren verändert?

TERGEIST: Es gibt bei den Anbietern mehr Konkurrenz, z.B. um Marktsegmente, um Gelder. Und weniger Solidarität. Vor 20 Jahren gab es viele kleinere und innovative (Aufbruch-) Projekte und Vereine, die aus Ideen einer kleinen Gruppe von engagierten Menschen entstanden. Das Problem von vielen war aber der Mangel an effektiven Strukturen. Bei basisdemokratisch organisierten Projekten gab es oft Probleme. Da redete jeder mit jedem, aber wer entscheiden durfte, war oft nicht klar, und informelle Macht setzte sich durch. Die Folgen waren ungute Dynamiken bzw. Stillstand in einigen Einrichtungen. Andere mussten sogar schließen. Inzwischen wurden öfter solche Projekte von größeren Trägern übernommen. Das ist auch ein Verlust an Vielfalt. Andererseits bietet dieser Prozess auch die Möglichkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Und: Auch heute können Sozialunternehmen innovativ sein und neue, ungewöhnliche Wege gehen, wie es sich aktuell beim Flüchtlingsthema zeigt. Viele beklagen allerdings derzeit eine Uniformierung durch Qualitätsmanagement-Systeme. Die Kritik ist oft, dass sich ein Teil der Emotionsarbeit, die in sozialen Einrichtungen geleistet wird, nicht messen lässt. Trotzdem erkennen Einrichtungen, dass Qualitätsmanagement nötig ist. Es kommt auf die Ausprägung an. Es gibt gute, sinnvolle Verfahren für eine kritische Reflexion der eigenen Arbeit, Evaluationsverfahren, bei denen man sich einen Tag oder mehr Zeit nimmt, um zu gucken, was machen wir gut, was läuft weniger gut, was braucht Weiterentwicklung und wie kann es gehen?

EPPENDORFER: Welche Bedeutung hat Wachstum in Sozialunternehmen?

TERGEIST: Als Chef bzw. Chefin muss man immer wieder neu entscheiden, ob man dies oder jenes um den Preis der Kontrolle durch die Geldgeber tun bzw. neu unternehmen will – etwa, wenn neue Hilfeleistungen ausgeschrieben werden, oder der Markt diese hergibt. Ich warne vor Beliebigkeit. Um jeden Preis zu wachsen, birgt die Gefahr von Entfremdung in sozialer Arbeit im Rahmen eines bestimmten Auftragsfeldes, in dem Sinn einen zentralen Stellenwert hat. Einrichtungen verlieren dann ihr Profil und manche ihrer Leute können da dann oft nicht mehr mitgehen.

EPPENDORFER: Wie normal ist gute Führung und wie sieht gute Führung aus?

TERGEIST: Ich glaube, gute Führung ist normal und professionell. Man weiß heute, es geht nicht nur um Führungseigenschaften, sondern auch um Verhalten und um Führung im Rahmen des be- stimmten Kontextes. Vorherrschend ist heute partizipative Führung, Führungskräfte beteiligen ihre Leute, geben aber auch klare Orientierung und begründen, warum etwas so oder so möglich ist oder nicht. Unprofessionelle Führung können sich Sozialunternehmen heute gar nicht mehr leisten, wenn sie am Markt bestehen oder z. B. angesichts des Arbeitskräftemangels Personal halten oder gewinnen wollen. Mitarbeiter heute sind anders als noch vor 20 Jahren. Sie legen mehr Wert auf die so genannte Work-life-balance. Manche Einrichtungen umwerben ihre Mitarbeiter regelrecht, nicht nur mit Supervision und Fortbildungen, sondern auch mit Motivationsförderungsmitteln wie zusätzlichen Urlaubstagen oder auch leistungsorientierter Bezahlung.

EPPENDORFER: Was ist die größte Herausforderung für Chefs oder Chefinnen in Sozialunternehmen?

TERGEIST: Die besteht darin, den Wandel erfolgreich zu gestalten: So, dass sie die Mitarbeiter mitnehmen können und notwendige Veränderungen tragfähig sind. Zum Beispiel, wenn eine Hilfeleistung wegfällt, Arbeitskräfte in einem Bereich überflüssig werden und für eine andere Arbeit motiviert werden müssen. Da stellen sich Fragen wie: Was biete ich denen an, wo kann ich den Leuten entgegenkommen, wenn sich ein Angebot nicht mehr rechnet, weil es nicht mehr genug Klienten gibt? Eine große Herausforderung ist die Handhabung der Dynamik bei Veränderungen. Wenn etwas beendet wird und keine Phase des Bedauerns und der Trauer zugelassen wird, bleiben die Mitarbeiter stehen und gehen nicht mit!

EPPENDORFER: Im Sozialbereich grassiert Burnout besonders. Was hat das mit Führung zu tun?

TERGEIST: Dafür gibt es viele Begründungen. Aber es hat hin und wieder auch mit schlechter Führung zu tun. Salutogenetische, also gesundheitsgerechte Führung bedeutet z.B., dass die Mitarbeiter ihren Möglichkeiten entsprechend eingesetzt werden, sie ihre Aufgaben tatsächlich handhaben können und sie in ihrer Arbeit Sinnhaftigkeit und keine Entfremdung bzw. Überforderung empfinden.

EPPENDORFER: Wie narzisstisch dürfen oder müssen Führungskräfte sein?

TERGEIST: Ein Chef oder eine Chefin sollte im konstruktiven Sinne Lust auf Macht und Führung haben. Er oder sie muss etwas erreichen wollen und Lust am Vorankommen und Gestalten haben, darf dabei aber andere nicht überfahren. Nur charismatische Ausstrahlung allein zählt heute nicht mehr, Führung ist auch solides Handwerk, und das kann man lernen. Nicht kompetente Leitungskräfte verlieren Leute, eine schlechte Führungskultur äußert sich in hoher Fluktuation. Und Narzissten, denen es nur um ihre eigene Selbstverwirklichung geht, bei denen sind die Mitarbeiter nicht identifiziert und wenig motiviert.

EPPENDORFER: Sozialarbeit ist ja eine Domäne der Frauen. Das sollte sich langsam auch in der Führungsebene widerspiegeln.

TERGEIST: Es gibt in diesem Bereich auch viel mehr weibliche Chefs als in der freien Wirtschaft. Aber: Während zwei Drittel der Mitarbeiter weiblich sind, ist es auf Führungsebene nur ein Drittel. Zum Vergleich: in der Wirtschaft sind es zehn bis 12 Prozent.

EPPENDORFER: Woran liegt’s?

TERGEIST: Frauen sind in die Führungsrolle nicht reinsozialisiert. Es fehlt ihnen öfter an Zutrauen. Sie glauben, nicht gut genug zu sein, sie haben zu hohe Ansprüche an sich selbst in der Rolle. Viele trauen sich noch nicht, die Verantwortung zu übernehmen. Der Prozentsatz an weiblichen Führungskräften nimmt daher nur langsam zu.

EPPENDORFER: Da fehlt noch die alte Frage, ob und wie Frauen anders führen?

TERGEIST: Unterschiede sind heute nicht mehr so eklatant. Frauen führen oft transparenter, haben klar die Einrichtungsziele vor Augen, sind mehr mit ihren Mitarbeitern in Kontakt, pflegen ein solides Beziehungsmanagement. Auf der anderen Seite haben sie manchmal noch mehr Probleme mit Abgrenzung, damit, nein zu sagen, gegen Widerstände anzugehen, unbequeme Entscheidungen zu treffen, sich eigene Fehler zuzugestehen, sie denken oft nicht so strategisch und visionär. Aber die meisten haben ein gutes Standing in ihren Führungsrollen.

EPPENDORFER: Führung in 20 Jahren – wo geht es hin, welche Zukunftsherausforderungen sehen sie?

TERGEIST: Die Entwicklung der Gesellschaft im Blick zu haben ist zentrale Führungsanforderung. Die Aufgaben werden zunehmen, denn der Bedarf wächst. Der Wohlfahrtsstaat wird weiter aufgeweicht werden. Und daraus folgt: die Lücken, das Leid wird größer, die öffentlichen Gelder werden weniger, der Unterstützungsbedarf steigt. Und umso mehr brauchen wir bei dieser Entwicklung in den Einrichtungen Führungskräfte, die bewusst mit Führungsknowhow leiten und dabei aber auch die Werte im Blick behalten und sich nicht verbiegen. Ich glaube, es wird mehr Spezialistentum geben. Es kann nicht mehr jeder alles verstehen und können. Da kauft man sich dann Experten z. B. für Nachwuchsrekrutierung oder für Öffentlichkeitsarbeit. Die Gewinnung von Ehrenamtlern wird immer mehr zum Thema. Social media, Twitter, Facebook, Medien allgemein zu nutzen wird bedeutsamer. Nicht zuletzt zur Personalrekrutierung ist es wichtig, in der Öffentlichkeit zu zeigen, wer man ist. Weitere Themen für Führungskräfte sind Transparenz und Vernetzung. Quartiersentwicklung, gesellschaftliche Präsenz und Beteiligung im Stadtteil. Nicht zuletzt ist es auch in Zukunft für die Führungskräfte in sozialen Einrichtungen wichtig, sich selbst im Blick zu haben, das eigene Selbstmanagement zu pflegen und sich bei der Ausrichtung des eigenen Führungsverhaltens wiederkehrend zu reflektieren, denn es ist bewiesen, wer reflektiert, führt besser!         Anke Hinrichs

(Originalveröffentlichung: EPPENDORFER 10/2016) *Gabriele Tergeist: „Führen und leiten in sozialen Einrichtungen“, Psychiatrie-Verlag, Balance Beruf, Köln 2015, ISBN:978-3-86739-087-3, 256 S., 39,95 Euro.