Hamburger Heimerziehung in der 1980er: Die Phase der Liberalisierung beschrieben Dr. Dorothee Bittscheidt und Dr. Charlotte Köttgen.
Die bundesweite Heimrevolte der frühen 1970er Jahre hatte in Hamburg zunächst kaum Auswirkungen – die Anstoß zur Wende brachte die medienwirksame Veranstaltung „Heimkarrieren. Die Würde des Kindes ist unantastbar?“ in der Markthalle im April 1980. Als Folge rückte die Abschaffung der Geschlossenen Unterbringung auf die politische Agenda. „Die Jugendlichen trieben die Behördenvertreter in die Enge“, erinnerte sich Dr. Charlotte Köttgen, die seit 1984 im Landesjugendamt den Jugendpsychiatrischen Dienst leitete. „Damals begann ein Jahrzehnt, wo die Jugendhilfe in Hamburg weitgehend repressionsfrei war“, sagte sie. Die Maxime sei gewesen, jedem Kind individuelle Förderung zukommen zu lassen.“ Zwischen 1980 und 1989 sank die Zahl der Einweisungen in die Jugendpsychiatrien, -Heim und in Haftanstalten. Auch in offenen und geschlossenen Einrichtungen auswärtiger Träger ging die Zahl zurück: 1989 waren es nur sieben Prozent außerhalb der Stadtgrenzen, so Dr. Köttgen.
Um 1990 jedoch kam es sie einem Paradigmenwechsel, die Reformen wurden zurückgenommen – Folge unter anderem der medialen Skandalisierung, beispielsweise mit Schlagzeilen über die damaligen „Crash Kids“ und der wieder einsetzenden Stigmatisierung von „kriminellen Kindern“. „Der Export von Problemkindern in andere Bundesländer stieg rasant an trotz des Ausbaus ambulanter und familienfördernder Hilfen“, so Dr. Köttgen. 1991 waren 1670 Jugendliche stationär untergebracht – davon sieben Prozent außerhalb Hamburgs, 2008 ist deren Zahl auf 2500 gestiegen, davon die Hälfte außerhalb Hamburgs. „Bei auswärtiger Unterbringung kann das soziale Umfeld der Betroffenen nicht mit einbezogen werden, Entwurzelung und ein Abrutschen in die Kriminalität drohen.“
Um die Jahrtausendwende wird Jugendkriminalität zum Wahlkampfthema, ein rechtskonservatives Bündnis aus CDU, Schill-Partei und FDP gewinnt die Wahl. 2002 werden in Hamburg nach zwei Jahrzehnten wieder geschlossene Heime eingeführt.
Dr. Dorothee Bittscheidt, damals Landesjugendamtsleiterin, erinnerte an das umstrittene Projekt Altengamme: Dort wurde 1981 ein gefängnisähnliches Erziehungsheim fertiggestellt, dann aber nicht als Heim in Betrieb genommen, weil es den Bedarf überstieg. „Es hat damals in Hamburg mehrere Hundert Plätz für gesicherte Unterbringung gegeben“, berichtete sie. Dr. Bittscheidt setzte sich vehement und schließlich erfolgreich für die generelle Abschaffung der geschlossenen Unterbringung ein – und das, obwohl sie vor ihrem Amtsantritt 1980 als Kriminalsoziologin in Bremen gearbeitet und daher nur über geringe Verwaltungserfahrung verfügte.
Schon 1982 konnte ein viele Kritiker überraschendes erstes Fazit gezogen werden: Entgegen vieler Befürchtungen sank die Zahl der Entweichungen nach Abschaffung der geschlossenen Unterbringung erheblich.
„Es war eine Reform von ,oben‘ mit viel Druck von ,unten‘“, so Dr. Bittscheidt. Bis 1986 seien in Hamburg zwei Drittel der Heime zu Gunsten kleinerer Betreuungssituationen geschlossen worden. „Die Betreuung begann sich an der Biografie und den Wünschen der Jugendlichen zu orientieren.“ Zudem sein keine Betreuungsform so teuer wie jene im Heim. Ein äußerst wichtiges Ergebnis dieser Phase: „Im Zuge der Entwicklung entstand ein neues Selbstwertgefühl bei den Pädagogen“, so Dr. Bittscheidt. Michael Göttsche