Peter Handke
und der Suizid

Peter Handke, Literatur-Ausstellung, Sitft Griffen, Österreich. Foto: Wikipedia commons/ Naturpuur

In der Kärntner Volkszeitung stand 1971 an einem Sonntag im November unter „Vermischtes“ folgendes zu lesen: „In der Nacht zum Samstag verübte eine 51-jährige Hausfrau aus A. Selbstmord durch Einnehmen einer Überdosis Schlaftabletten.“ Die Hausfrau war die Mutter von Peter Handke. Er war damals 30. Der Suizid prägte Leben und Werk des späteren Nobelpreisträgers (2019), der wegen seiner Unterstützung für das serbische Regime während der Jugoslawienkriege bis heute moralisch umstritten ist. Sieben Wochen nach dem Tod begann der Autor den Suizid in der Erzählung „Wunschloses Unglück“ zu verarbeiten.

Maria Sivec, spätere Handke, wurde 1920 in Griffen als Tochter eines Zimmermanns und Kleinbauern slowenischer Abstammung geboren – als vorletztes von fünf Kindern. Auf die Idee, der Tochter eine Ausbildung zu finanzieren, kam man damals nicht. Sie soll den Großvater angebettelt haben, etwas lernen zu dürfen. Sie ging dann einfach von zu Hause weg und lernte in einem Hotel am See kochen. Und wurde selbstständig. „Sie bekam ein Auftreten“, schildert es der Sohn. 1938 erfolgt der „Anschluss“ an Hitler-Deutschland. Maria verliebt sich in einen deutschen Soldaten. Eigentlich Sparkassenangestellter, kleiner, älter. „Er war verheiratet, und sie liebte ihn, sehr, ließ sich alles von ihm sagen“, schreibt Handke. Doch als offizieller Vater kommt der Verheiratete nicht in Frage. So heiratet sie kurz vor der Entbindung den Berliner Straßenbahnschaffner und Wehrmachtssoldaten Adolf Bruno Handke, dem das Kind eines Fremden nichts ausmacht. Er hatte sie lange verehrt, war ihr zuwider, aber man redet ihr das Pflichtbewusstsein ein, dem Kind einen Vater geben zu müssen.

„Sie gingen viel aus und waren ein schönes Paar”


Später teilen sie sich ein armseliges Leben in Berlin. Er trinkt. Schlägt sie auch. Und doch: „Sie gingen viel aus und waren ein schönes Paar.“ 1948 verließen sie den Ostsektor und kehrten in ihr Geburtshaus nach Kärnten zurück. Zwei Kammern für das Paar und mittlerweile drei Kinder mussten reichen. Das weitere Leben: eine unglückliche Ehe, Armut. Doch sie bleibt. Wird mit 40 nochmal schwanger.
Viel Arbeit. Betäubte Lebenslust. Doch sie liest: Zeitungen, Bücher. Zusammen mit ihm, Sohn Peter. Fallada, Dostojewski und William Faulkner. Sie „lebte dabei auf, rückte mit dem Lesen zum ersten Mal mit sich selbst heraus; lernte von sich zu reden; mit jedem Buch fiel ihr mehr dazu ein. So erfuhr ich allmählich etwas von ihr“, schreibt der Sohn. Doch sie fand Versäumtes, aber keine Zukunftsträume. „Die Literatur brachte ihr nicht bei, von jetzt an an sich selbst zur denken, sondern beschrieb ihr, dass es dafür inzwischen zu spät war“, so der Sohn. Aber sie interessiert sich nun auch für Politik, wählt die Sozialisten.

„Wie in einem Zoo lag da die fleischgewordene, animalische Verlassenheit.“


Dann beginnt das Leiden. Sie bekommt starke Kopfschmerzen, verliert das Körpergefühl, stößt sich, fällt hin. Als er sie einmal im letzten Sommer im Bett liegend vorfindet, beschreibt er sie mit folgenden Worten: „Wie in einem Zoo lag da die fleischgewordene, animalische Verlassenheit.“ Sie unternimmt lange Gänge, irrt herum, fürchtet den Verstand zu verlieren. Ein Nervenarzt diagnostiziert einen Nervenzusammenbruch. Sie nimmt Medizin. Dann unternimmt sie eine Reise ans Meer, danach geht es ihr besser. Doch später schreibt sie Handke von ihrer Einsamkeit. „Ich rede mit mir selbst, weil ich sonst keinem Menschen mehr etwas sagen kann.“ „Das bloße Existieren wurde zu einer Tortur. Aber ebenso grauste sie sich vor dem Sterben“, so der Sohn.


Aber den Tod geht sie sehr bewusst an. Sie verfasst an alle Angehörigen Abschiedsbriefe. ,.Du wirst es nicht verstehen. Aber an ein Weiterleben ist nicht zu denken“, schreibt sie ihrem Mann. Sie geht zum Friseur, lässt sich maniküren, besorgt sich hundert kleine Schlaftabletten. Isst noch mit der Tochter zu Abend, die sich erinnert. „Wir haben noch Witze gemacht.“ Danach stirbt sie – gut vorbereitet und geplant.

„Es stimmt nicht, dass mmir das Schreiben genutzt hat”


Peter Handke später über seine Erzählung: „Es stimmt nicht, dass mir das Schreiben genutzt hat … Das Schreiben war nicht, wie ich am Anfang noch glaubte, eine Erinnerung an eine abgeschlossene Periode meines Lebens, sondern nur ein ständiges Gehabe von Erinnerung in der Form von Sätzen, die ein Abstandnehmen nur behaupteten.“


Auch in Interviews findet er eine bildreiche Sprache. Als er 1988 in einem Interview für die ZEIT nach dem Suizid seiner Mutter und nach eigenen Suizidgedanken befragt wurde, antwortete er: „Wenn ich an Selbstmord denke, sehe ich immer das Bild einer schwankenden Hängebrücke, auf der unser Leben sich abspielt. Ab und zu kann man ein paar Schritte in Sicherheit machen. Dann fängt die Brücke wieder zu schaukeln an. Plötzlich kommt ein Moment zu großer Schwingung… Einen Augenblick später würde man es schon nicht mehr verstehen.“ Anke Hinrichs (Originalveröffentlichung EPPENDORFER 4/24)

Die Erzählung „Wunschloses Unglück“ entstand 1972. Die aktuelle Auflage wurde 2023 bei Suhrkamp verlegt und hat 96 Seiten.