Gewalt und Aggressionen in Pflege- und Betreuungsberufen nehmen anscheinend zu. Laut einer Studie des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) und der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) fühlt sich etwa ein Drittel der Beschäftigten durch entsprechende Erlebnisse stark belastet. Dabei lasse sich das Risiko, Gewalt zu erleben, durch- aus drosseln: durch eine gute Vorbereitung der Betriebe und der Beschäftigten.
BERLIN/HAMBURG. Nur ein Drittel der in der Studie Befragten gab jedoch an, auf kritische Situationen tatsächlich gut vorbereitet zu sein. Mit Deeskalationstrainings und anderen Präventionsangeboten kämpft die BGW seit mehr als zehn Jahren darum, Tabus und Teufelskreise aufzubrechen. Seit gut zwei Jahren fährt sie zudem eine einschlägige Informationsoffensive. Auch bei dem für September geplanten Kongress „BGW forum – Gesundheitsschutz in der Behindertenhilfe“ in Hamburg wird das Thema Aggression und Gewalt eine Rolle spielen. Der EPPENDORFER sprach mit der BGW-Präventionsexpertin Dr. Heike Schambortski über Erfolge, Herausforderungen und Hintergründe. „Unsere Unfallzahlen zwischen 2010 und 2015 zeigen einen leichten Zuwachs“, so Schambortski. Es gebe allerdings wenige belastbare Zahlen, und diese seien auch mit Vorsicht zu genießen.
Für 2015 habe eine Hochrechnung gut 3000 meldepflichtige Vorfälle in den genannten Branchen ergeben. „Zwischen 2010 und 2015 hatten wir insgesamt vier Todesfälle aufgrund von Gewaltereignissen in unseren Mitgliedsbetrieben bei knapp acht Millionen versicherten Personen“. „Unsere Aktivitäten tragen dazu bei, dass heute auch genauer hingeschaut wird. An den Fragen aus den Betrieben merken wir, dass Gewalt zunehmend thematisiert wird“. Gemeint sind damit körperliche Übergriffe, Beleidigungen, Beschimpfungen und sexuelle Belästigungen. Beschäftigte, die häufig verbalen Aggressionen oder Belästigungen ausgesetzt sind, fühlten sich stark belastet. Nicht selten mangele es an Unterstützung durch Kollegen oder Vorge- setzte, die solche Vorkommnisse als unvermeidbaren Teil des Arbeitsalltags betrachteten. Dieses fehlende Verständnis belaste zusätzlich.
Die besondere Gefährdung in den Pflege- und Betreuungsberufen habe damit zu tun, dass die betreuten Menschen zum Teil – sei es krankheits- oder medikamentös bedingt – über wenig Impulskontrolle und eine geringe Frustrationstoleranz verfügen oder auch verwirrt sein können. Gewalt gehe zu- weilen auch von Angehörigen aus, die sich in einer Ausnahmesituation befinden. Dennoch liege es in der Verantwortung des Arbeitgebers, Gefährdungen vorzubeugen und den Beschäftigten beizustehen. Hierbei unterstütze die BGW, deren vorrangige Aufgabe es sei, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren von vornherein zu verhindern. Ziel sei es daher auch, in den Unternehmen ein gutes Sicherheits- und Gesundheitsmanagement zu etablieren.
Gründe für zunehmende Aggressionen gegen Pfleger und Betreuer könnten neben Eskalationen aufgrund von Personalengpässen und Kostendruck auch eine veränderte Wahrnehmung von Autoritäten sein: Ärzte und Pflegekräfte seien nicht mehr Autoritäten qua Amt, sodass die Leute sich heute Anweisungen eher nicht mehr einfach fügten. Der Wettbewerb im Gesundheits- wesen führe zudem dazu, dass Patienten in Einrichtungen aufgenommen werden, die dafür nicht geeignet sind: In der häuslichen Pflege beispielsweise befänden sich immer wieder auch gewalttätige Patienten, die eigentlich ander- weitig untergebracht gehörten. Schambortski: „Wenn Pflegedienste die Sicherheit ihrer Beschäftigten ernst neh- men, müssen sie auch mal Klienten ablehnen“. Ein großes Problem sei die weit verbreitete Tabuisierung des Themas in den Einrichtungen. „Bei uns kommt das nicht vor“, heiße es häufig ablehnend. Doch die Sorge ums Image führe in den Einrichtungen nicht selten zu einem Teufelskreis: Die betroffenen Beschäftigten trauen sich nicht, über Vorfälle zu sprechen, und es wird nichts unternommen, um Gewalt vorzubeugen. Vieles, was unterhalb der Schwelle des „Zusammenschlagens“ liege, falle unter den Tisch, darunter auch Beleidigungen und Übergriffe: „Sexuelle Belästigung kommt ebenfalls vor und wird sehr tabuisiert“. Problematisch sei ferner strukturelle Gewalt, etwa wenn Betreute aufgrund von Personalmangel unter Zeitdruck zur Nahrungsaufnahme genötigt werden. Auch dadurch komme es zu aggressiven Gegenreaktionen.
Tabuisierung sei jedoch in keinem Fall eine Lösung, so Schambortski: „Sie verhindert vielmehr Präventionsmaßnahmen“. Deeskalationstrainings und ein offener Umgang mit dem Thema seien schon deswegen wichtig, da sie ein besseres „Coping“ (Bewältigung) bewirkten: Die psychische Belastung der Mitarbeiter sei geringer. „Sie fühlen sich nicht so ausgeliefert“. Gleichzeitig sinke durch die Vorbereitung auf kritische Situationen und den Umgang mit Gewalt auch das Risiko, selbst Gewalt zu erleben. Wesentliche Grundlagen der Prävention seien auch eine Gefährdungs- beurteilung, die Gewalt als Gefährdung aufgreift, sowie daraus abgeleitete Maßnahmen, wie eine sichere Ausstattung der Einrichtung – etwa durch Rückzugsräume, Fluchtwege, Sicherheitsglas oder Notsignalgeräte. Auf organisatorischer Ebene spielten Notfallpläne, Rettungsketten, Handlungsspielräume und systematische Auswertungen eine Rolle. Mitarbeiter sollten neben der Deeskalation etwa auch Abwehr- und Befreiungstechniken beherrschen und geeignete Kleidung tragen. „Eine gute Gefährdungsbeurteilung wird immer gemeinsam mit den Beschäftigten gemacht“, so Schambortski. Dadurch erreiche man neben der Einbeziehung umfassender Expertise auch die Sensibilisierung der Mitarbeiter und die Akzeptanz notwendiger Maßnahmen. In vielen Unternehmen sei der Nutzen von Gefährdungsbeurteilungen inzwischen bekannt. Doch es gebe noch immer Betriebe mit Nachholbedarf.
Bei seinen Betriebsbesichtigungen überprüfe der Aufsichtsdienst der BGW, ob eine angemessene Gefährdungsbeurteilung vorliegt. Komme es trotz aller Prävention zu einem Vorfall, sei es die Aufgabe der BGW, sicherzustellen, dass der Betroffene wieder am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, wozu bei Bedarf auch psychotherapeutische Behandlungen gehörten. Zu den Erfolgen von Informationsoffensive und Präventionsangeboten zählt Heike Schambortski, dass betroffene Mitarbeiter zunehmend auch nicht meldepflichtige Vorfälle angeben. „Auch psychische Folgen werden stärker gemeldet“. Möglicherweise bestehe eine Wechselwirkung zwischen besserer Aufklärung und gemeldeten Vorfällen. Ein Symposium zum Thema Gewalt am Arbeitsplatz, zu dem im November 2016 rund 300 Teilnehmer nach Dresden gereist waren, sei innerhalb kürzester Zeit ausgebucht gewesen. Seit 2005 biete die BGW bereits Deeskalationstrainings, Beratungen und Seminare an. „Dennoch ist es wichtig, das Tabu weiter aufzubrechen und Gewalt, Aggressionen und sexuelle Belästigungen offen anzusprechen“. Weitere Infos zum Thema gibt es online unter: www.bgw-online.de/gewalt und in der Broschüre „Gewalt und Aggression gegen Beschäftigte in Betreuungsberufen“, die ebenfalls im Internet zu finden ist. Näheres zum „BGW forum 2017 – Gesundheitsschutz in der Behindertenhilfe“ in Hamburg findet sich unter www.bgwforum.de. Gesa Lampe