Obwohl die meisten Menschen mit Entsetzen auf Gewalt reagieren, sehen sie gerne Krimis oder lesen spannende Thriller. Der Kampf von Gut gegen Böse spiegelt unser alltägliches Dasein. Aggression gehört unbedingt zum Menschsein dazu, hilft dabei, sich gegen Schädliches zu wehren. Aber natürlich kann aggressives Verhalten das Zusammenleben sehr erschweren. In dem Sammelband „Die dünne Kruste der Zivilisation“ betrachten zwölf psychotherapeutisch und analytisch geschulte Menschen die Vielschichtigkeit des Themas Gewalt.
Jochen Lellau beschreibt zum Beispiel sehr eindrücklich den Mikrokosmos einer psychoanalytischen Behandlung. Eine Borderline-Patientin torpediert die Therapie, derer sie zugleich so dringend bedarf. Das besondere der analytischen Situation ermöglicht ihr, ihre Hilflosigkeit und ihre Aggression im Analytiker unterzubringen, der diese Strömungen beobachten und verwandeln kann. Dafür muss er lange Zeiten der Abwertung durchstehen, in denen er selbst fast die Hoffnung auf Besserung verliert. Wenn sowohl Analytiker als auch Patient diese Durststrecken durchhalten, werden Energien für neue Lebensmöglichkeiten frei, so die Botschaft dieser Fallanalyse.
„Kollateralschäden” als „Vorkrieg”
Die Psychoanalytikerin Mechthild Klingenburg-Vogel analysiert Sprache und Handlungen im Hinblick auf etwas, was sie als „Vorkrieg“ bezeichnet. Dort etwa, wo zivile Kriegsopfer in Medien als Kollateralschäden abgewertet werden oder wo Kindererziehung auf Unterwerfung und Anpassung statt auf Bindung setzt, sieht sie den Weg bereits geebnet für kriegerische Auseinandersetzungen.
Nicht sprechen bringt Gefahr des Weiterwirkens in Unterbewusste
Dass die Wirkung von Gewalt sehr unterschiedlich sein kann, zeigt Ulrich Lamparter in seinem Beitrag über Kriegskinder. Anhand von Interviews mit Überlebenden des Feuersturms in Hamburg erschließt sich aber auch, wie schwierig es ist, diese Zusammenhänge zu erfassen. Manche Betroffene begleitet eine fortwährende Angst, andere wähnen das Grauen überwunden, zeigen aber doch Merkmale, die sich nur mit diesen Erlebnissen in der Kindheit erklären lassen. Besser geht es offensichtlich den Menschen, die ihre Traumata bewusst machen konnten, Familien, in denen erzählt wurde. Nicht über derlei einschneidende Erlebnisse zu sprechen birgt immer die Gefahr, dass die zerstörerische Kraft unbemerkt im Unbewussten weiter wirkt.
Die differenzierten Beiträge beleuchten, dass Gewalt viele Gesichter hat und seine Folgen von vielen Faktoren beeinflusst werden. Keinesfalls sind Taten durch ein schlüssiges Wenn-Dann-Konzept zu beschreiben. Das Erklären der Gewalt wird aber angestrebt, denn wenn wir uns etwas erklären können, beängstigt es nicht mehr so sehr. Auch der Täter fühlt sich entlastet, wenn ihm eine Begründung für sein Tun einfällt. Aber oft genug werden diese Begründungen eben nur hinterher gesucht.
„Es ist eine kulturelle Errungenschaft, auf Gewalt zu verzichten”
Gewalt ist etwas, das geschehen kann, womit wir rechnen müssen. Es ist eine kulturelle Errungenschaft, darauf zu verzichten. Ob Auftragskiller, Missbrauch oder Krieg – jeden Tag werden wir gewahr, dass ein gewaltfreies, zivilisiertes Leben oft nicht gelingt. Hans-Jürgen Wirth bringt es in seinem Beitrag auf den Punkt: Das Böse ist in der Welt und der Mensch kann sich entscheiden, zum Guten, zum Bösen. Die viel besungene Freiheit des Menschen bedeutet eben auch, dass Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Trennlinie zwischen Gut und Böse ist allerdings oft nicht klar definiert, sondern kommt in zahlreichen Schattierungen daher. Jeder Einzelne ist immer wieder neu gefordert, sich für oder gegen ein Tun zu entscheiden.
Gewalt muss erkannt und benannt werden
Insgesamt macht das Fachbuch bewusst, wie zahlreich grausame Gewalterfahrungen existieren. Als Teil des sozialen Zusammenlebens ist es wichtig, sich mit diesem Geschehen und seinen Folgen auseinander zu setzen. Ob offensichtlich in Kriegssituationen oder weniger prominent in der (therapeutischen) Begegnung, Gewalt muss erkannt und benannt werden, um sie einzudämmen. Ein schlichtes Denken von Täter und Opfer wird dem komplexen Geschehen dabei nicht gerecht, denn auch Partner, Folgegenerationen oder Zuschauer sind Teil dieser Auseinandersetzung. Ein Thema, das uns alle angeht, damit die dünne Kruste der Zivilisation nicht vollständig reißt. Verena Liebers
Ulrich Lamparter, Gabriele Amelung, Annegret Boll-Klatt, Andreas Sadjiroen (Hg.): „Die dünne Kruste der Zivilisation“, Beiträge zu einer Psychoanalyse der Gewalt; Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse, Psychosozial-Verlag, 246 Seiten, 1. Aufl. 2021, ISBN-13: 978-3-8379-3042-9, 32,90 Euro.