Forschung mit Ausblick

BERLIN. Wer forscht wo an was, und wie ist der Stand? Um hier einen kompakten Überblick über staatlich geförderte aktuelle Netzwerk-Projekte zu geben, lud die Aktion Psychisch Kranke (APK) in Kooperation mit der DGPPN und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) zu einem zweitägigen Kongress ins Bundesforschungsministerium (BMBF) ein. Im Fokus standen die psychiatrischen Forschungsverbünde, die das BMBF seit 2015 und bis 2019 mit bis zu 35 Millionen Euro fördert.

Bundesministerin Prof. Dr. Johanna Wanka hob in ihrer Eröffnungsrede drei Punkte hervor, die besonders wichtig seien: die Vernetzung, und zwar auch mit anderen Disziplinen, die schnelle Translation, also Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis – hier seien andere Nationen weiter, und schließlich die internationale Sichtbarkeit der Ergebnisse. Als großes Zukunftsthema schnitt sie im übrigen das Thema „Arbeit 4.0“ an: die Auswirkung von Digitalisierung, so genannter künstlicher Intelligenz und der Flexibilisierung von Arbeitszeiten auf die Gesundheit.

ADHS

Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski stellte den ADHS Forschungsverbund vor, der gestufte Behandlungsprogramme untersucht. Hinter „Evidence-based Stepped Care of ADHD along the lifespa“ stehen neun Universitäten. Hier geht es vor allem darum, einen festgestellten Mangel an Wirksamkeitsnachweisen für nicht pharmakologische Behandlung auszugleichen. Das Ausmaß an Verschreibung von Stimulanzien sei beunruhigend. Zugleich ist die Prävalenz groß: 3-6 Prozent bei Jugendlichen, drei bei Erwachsenen, weltweit, so Banaschewski. Bei 30 bis
60 Prozent bleibe die Problematik bis ins Erwachsenenalter. Mehr als 50 Prozent hätten mindestens zwei Störungen, besonders hoch ist das Risiko, zusätzlich an Depression oder Sucht zu erkranken. Neuen Studien zufolge sei die vorzeitige Sterblichkeit deutlich erhöht. Bei Substanzmissbrauch bis zu achtfach (insbesondere durch Unfallneigung). In ins-
gesamt vier klinischen Studien werden abgestufte Therapieansätze an unterschiedlichen Zielgruppen erforscht: Vorschulkinder, Kinder im Schulalter, Jugendliche und Erwachsene. Die Behandlung beginnt sehr niederschwellig, z.B. mit angeleiteter Selbsthilfe, und wird dann je nach Ansprechen ergänzt durch Verhaltenstherapie und/oder Medikamente. Teilgruppen erhalten auch Neurofeedback. Ziel sei es, homogene Gruppen zu finden, bei denen die jeweiligen Ansätze helfen.

Angst

„Protect-AD – Optimiertes Extinktionslernen als Strategie für eine effektivere Therapie von Angst- und depressiven Störungen“ stellte Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen vor. Hier geht es um nicht weniger als die Entwicklung eines neuen zeitökonomischen psychotherapeutischen Ansatzes, „ein robustes Verfahren“, so Wittchen, das erstmals störungsübergreifend für alle Angststörungen (von PTBS bis Phobie und Zwangsstörung) und Komorbiditäten eingesetzt werden kann. „Ich glaube, hier sind wir international führend“, so Wittchen zu Ministerin Wanka. Hintergrund dieser Forschungsabsicht ist die extrem schlechte Versorgung von Angsterkrankten in Deutschland. Bei 60 Prozent der Betroffenen werde Therapie gar nicht oder zu spät angewandt. Dabei gelten Angststörungen als sehr gut behandelbar und münden unbehandelt oft in chronische Depressionen. Wer als Kind eine Angststörung hat, habe ein 5,6-fach erhöhtes Risiko, bis zum 30. Geburtstag an einer Depression zu erkranken.
In diesem Verbund sind sieben Institute zusammengeschlossen. Extinktion meint ein Auslöschungslernen von Furchtfunktionen durch neu lernen – der zentrale Wirkmechanismus expositionsbasierter Therapien. Für eine Optimierung müsse die Lernerfahrung „verdichtet“ werden. 50 Minuten Psychotherapie in der Woche seien nicht ausreichend. Insgesamt seien 1200 Patienten in diese Untersuchungen eingeschlossen.

Autismus

„ASD-Net: Autismus-Spektrum-Störungen über die Lebensspanne – Effektivere Versorgung durch valide Diagnosen und ein besseres Verständnis der Ätiologie“, so der Titel des Autismus-Forschungsverbundes, den Prof. Dr. Inge Kamp-Becker präsentierte. Besonderheit hier sei zum einen der sehr frühe Beginn (in den USA würden schon im ersten Lebensjahr Auffälligkeiten im Blickverhalten analysiert) und vor allem ein enormer Diagnosezuwachs v.a. bei jungen Erwachsenen. Eine Erklärung von Kamp-Becker: „Es gibt kaum eine Störung, die mit so positiven Assoziationen einhergeht. Vor allem wird Autismus mit besonderen Begabungen assoziiert. Ein willkommenes Erklärungsmodell für Probleme und Scheitern, ohne Abwertung zu riskieren. ASD sei zudem eine sichere Diagnose, um Schulbegleitung zu erhalten. Das Problem: Die Verdachtsfälle verstopfen die Spezialambulanzen. Mittlerweile lägen die Wartezeiten bei Erwachsenen bei über einem Jahr. 50 bis 70 Prozent hätten gar keine ASD. Dahinter stünden auch Mängel bei Screening-Verfahren. Ziel der Forscher ist es nun, ein Screeningverfahren für adäquate Verdachtsdiagnosen zu entwickeln und in die Versorgung zu implementieren, um so die Wartezeiten in den Ambulanzen zu verkürzen.
Im Therapiebereich wird zudem das Potenzial des „Vertrauenshormons“ Oxytocin bei der Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen untersucht – u.a. durch Einsatz bei Gruppen-Sozialtrainings. Ferner werden Behandlungskosten erforscht, und in Mannheim wird eine zentrale Biomaterialbank erstellt, bei der die von allen Studien-Teilnehmern gesammelten Speichelproben durch genetische Analysen ausgewertet werden.

Trauma

Über das Mitte 2017 endende Projekt „TRANS-GEN: Transgenerationale Weitergabe von Belastungen“ (11 Verbünde, 47 Forschergruppen), das in Folge des Missbrauchsskandals und als Ergebnis des Runden Tisches mit 23 Millionen Euro gefördert wurde, berichtete Prof. Dr. Jörg M. Fegert. 7 bis 20 Prozent der Eltern, die misshandelt wurden, würden diese Traumatisierung an die Kinder weitergeben. Bei einer „besonders behüteten“ Stichprobe (mehrheitlich Akademikerinnen in fester Partnerschaft) kam heraus: Zehn Prozent der Mütter gaben an, in der Vergangenheit körperlich misshandelt worden zu sein, weitere zehn gaben sexuellen Missbrauch an. Das zeigt die Dimension. Wie mag es dann erst bei Menschen mit psychosozialen Risikofaktoren wie alleinerziehend und Gewalt in der Partnerschaft aussehen? Derzeit wird auf eine Folgeausschreibung gewartet. Fegert sprach sich in dem Zusammenhang für längere Förderzeiträume aus.

Bipolare Störungen

Den Verbund „BiPo-Life: Bipolare Störungen“ stellte Koordinator Prof. Michael Bauer aus Dresden vor. Es handele sich um den ersten in Deutschland geförderten Forschungsverbund speziell zu Bipolaren Störungen. Die zehn beteiligten Universitäten würden eng mit der trialogisch aufgestellten Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) zusammenarbeiten. Ziel der Wissenschaftler: Risikostadien früher zu erkennen und frühe Behandlungsansätze auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Im einzelnen nannte Bauer u.a. folgende Aspekte: Zum einen soll eine spezifische, emotional-kognitive Psychotherapie zur Rückfallprophylaxe mit einer unspezifischen, emotionsfokussierten Psychotherapie verglichen werden. In einer neurobiologischen Studie werden Hirnbildgebungsmarker zur Vorhersage der Wirkung von Lithium gesucht. Dresden selbst prüft, inwieweit es gelingt, per Smartphone-App das Rückfallrisiko zu erfassen – etwa über Mobilitätsdaten sowie über die Zahl der Telefonate und SMS.

Depression

Über den Verbund „OptiMD: Depression“ sprach Prof. Dr. Rainer Rupprecht aus Ravensburg. Untersuchungsobjekt hier unter anderem: der Darm. Hypothese: Das Dickdarmmikrobiom ist bei Depressiven verändert – und verändere sich im Verlauf einer Antidepressivatherapie. Geguckt werden soll, ob dies mit Wirkungen oder Nebenwirkungen im Zusammenhang steht. Ferner wird nach Biomarkern für Rückfallwahrscheinlichkeit sowie nach Bildgebungsmarkern gesucht, die etwas über ein Ansprechen der Therapie aussagen können. An der Charité werden Versuche mit Antibiotika gemacht (Minocyclin). Die Hypothese hier: Minocyclin verstärke die Wirkung verschiedener Antidepressivaklassen. Inwieweit, soll nun mit einer doppelblinden placebokontrollierten Studie herausgefunden werden.

Schizophrenie

ESPRIT („Enhancing Schizophrenia Prevention and Recovery through Innovative Treatments“) heißt der Schizophrenie-Forschungsverbund, den Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit Mannheim (ZI), vorstellte. Schwerpunkt hier: Weg von einer symptomorientierten Therapie hin zu präventiven Ansätzen, um künftige Episoden abzuschwächen oder zu verhindern. Erforscht wird zum einen die Wirkung des Schleimlösers N-Acetylcystein bei Personen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko in Vergleich zu Psychotherapie. Hintergrund: Bei der Entstehung von Schizophrenie wird auch Entzündungen eine gewisse Rolle zugesprochen. Ferner werden die Effektivität der Transkraniellen Gleichstromstimulation zur Verbesserung des kognitiven Trainings bei Schizophrenie sowie einer „Integrierten Präventiven Psychologischen Intervention“ (IPPI) bei Menschen mit erhöhtem Risiko geprüft. Am ZI angesiedelt ist eine Studie zur Wirksamkeit von Cannabidiol CR als Zusatztherapie zu einer Behandlung mit Olanzapin oder Amisulprid im Frühstadium einer Schizophrenie. Die Wirkung von Ausdauersport wird unter Leitung der Universitätspsychiatrie München (Prof. Dr. Peter Falkai) mittels Ergometertraining studiert.
Der Forschungsverbund APIC schließlich untersucht – koordiniert von Prof. Dr. Frank Schneider, RWTH Aachen – Hirnveränderungen bei Schizophrenie-Erkrankten. Hintergrund: Eine Dauer- medikation kann sich „funktionell und strukturell“ auf das Gehirn auswirken. Daher wird diskutiert, ob eine Dauermedikation überhaupt klinisch sinnvoll ist. Möglicherweise biete sich auch eine Intervalltherapie als alternative Möglichkeit an. Im Fokus der Untersuchungen stehen v.a. der klinische Verlauf und die Veränderungen des Gehirnvolumens der Patienten. Während der Studie erhält ein Teil der über 600 Patientinnen und Patienten die Medikamente dauerhaft, um einen Rückfall zu verhindern, ein anderer Teil dagegen lediglich, wenn akute Symptome bestehen. In einem weiteren Teilprojekt werden die Schizophrenie-Erkrankten nicht nur medikamentös, sondern mit Neurofeedback behandelt: Mit Hilfe eines gezielten Trainings im Magnetresonanz- tomographen lernen die Patienten, die Prozesse im Gehirn, die beispielsweise das Stimmenhören bewirken, selbst zu regulieren.

Essstörungen

Professorin Martina de Zwaan nannte einige Ergebnisse einer bereits abgeschlossenen Verbundforschung zu Essstörungen (EDNE) an insgesamt 1200 Patienten. 20 bis 30 Prozent hätten auch nach zwölf Jahren noch Magersucht. Ambulante Therapie sei für viele Patienten ausreichend. „Die perfekte Therapie wurde noch nicht gefunden.“ Die tagesklinische Behandlung war der einer stationären Behandlung nicht unterlegen, wobei es an Langzeitdaten fehle. Rund ein Viertel der Patientinnen hätten auf übliche Therapie nicht angesprochen. Es mache offenbar keinen großen Unterschied, wie schnell an Gewicht zugenommen wird.

Sucht

Im Forschungsverbund AERIAL („Addiction: Early Recognition and Intervention Across the Lifespan“, Koordinator Prof. Andreas Heinz, Berlin) sollen neue Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten bei Alkohol- und Nikotinabhängigkeit sowie bei einer begleitenden Depression erforscht werden. Im Fokus stehen effizientere Zugangswege zum Gesundheitssystem. Insbesondere werden neue Therapiemöglichkeiten wie die Nutzung von Internet-basierten Angeboten studiert. Begleitend soll die Bedeutung sozialer Einflussfaktoren wie Migration oder soziale Ausgrenzung auf den Krankheits- und Therapieverlauf untersucht werden.
Anke Hinrichs