Für Angehörige und Betroffene ist es seit vielen Jahren ein Dauerbrenner. Doch auch den Profis brennt es immer mehr und akut auf den Nägeln: Weil es an Einrichtungsplätzen in der Hansestadt mangelt, müssen viele Patienten – in Hamburg zunehmend von Wohnungslosigkeit bedroht – monatelang in Kliniken ausharren, bis sie irgendwo einen Platz ergattern – oft außerhalb der Heimatstadt. Besonders schwer vermittelbar: Menschen, die im Zuge ihrer Symptomatik zu Gewalt neigen. Nimmt der Pflegebedarf zu, droht gar „Abschiebung“ in ein Pflegeheim. Besonderer Mangel besteht offenbar an einer so genannten „breiten Mitte“ guter Versorgung für Menschen mit komplexerem Hilfebedarf. Liegt der Fehler im System?
HAMBURG (hin). Klar ist: so soll es nicht weitergehen. Auf rund 80 Patienten im Jahr schätzte Bettina Lauterbach im Rahmen des Treffens im Agnes-Neuhaus-Heim die Zahl derjenigen Patienten, die monatelang und zunehmend länger in der Klinik bleiben müssen, u.a. auch, weil ihnen sonst Obdachlosigkeit droht, weil kein Platz in einer (geschlossenen) Einrichtung gefunden wird. Viele – rund 600 pro Jahr – landen letztlich in Heimen außerhalb Hamburgs, in Schleswig-Holstein oder Niedersachsen. Warum ist das so? Und was ist zu tun? Darauf gibt es keine einfachen und keine einheitlichen Antworten. Der EPPENDORFER fasst die verschiedenen Perspektiven zusammen.
Die Kliniken:
Die Zahlen langfristiger Unterbringungsbeschlüsse seien in Rissen stabil, berichtete eine Mitarbeiterin, diese Patienten müssten nach Klinikentlassung fast immer Hamburg verlassen. Aus der UKE-Akutstation hieß es: Die Liegezeiten – nicht gegenfinanzierte Fehlbelegungen – bis zur Vermittlung würden immer länger, in Hamburg gebe es auch im offenen Bereich zu wenig Plätze. Aus der AK Harburg wurde das besondere Problem Fremdaggressivität hervorgehoben. Es sei auch unklar, wo die Grenze zur Forensik verlaufe: Manche Patienten, die einen Polizisten angreifen, würden schnell in die Forensik kommen, während Gewalt unter Mitpatienten und gegen Kollegen nicht unbedingt zu Konsequenzen führe.
Die Genesungsbegleiter:
Martin Wieser berichtete vom zermürbenden Warten einer Wohnungslosen, die fast ein Jahr auf der Akutstation auf einen Langzeitplatz warten musste. Betont wurde die Bedeutung des Erhalts des sozialen Umfelds und der Wohnung in der Heimat. Rainer Ott, der auch im Landesverband Psychiatrie-Erfahrener (LPE) aktiv ist, meinte, dass Unterbringungsbeschlüsse mehr geworden seien und dass dies auch mit der ASP und nicht ausreichender Unterstützung für Menschen mit hohem Hilfebedarf zusammenhänge.
Die Angehörigen:
Karin Mommsen-Wolf, stellvertretende Vorsitzende des Hamburger Angehörigenverbands, machte deutlich: „Wir Angehörigen sind grundsätzlich gegen Unterbringung außerhalb.“ Ein Teil der Probleme ließe sich auffangen, wenn es im Vorfeld bessere Unterstützung bei Ersterkrankung gebe. Sie forderte ferner eine Kontrolle der auswärtigen Einrichtungen – wenn man schon Hamburger dort unterbringe.
Die Heime:
Centrumsleiter Wolfgang Ahrens berichtete aus Glückstadt, wo Vitanas in einem Neubau zehn Plätze in Einzelzimmern für geschlossene Unterbringung im Eingliederungshilfebereich anbietet. Fünf davon seien mit Hamburgern belegt. „Was wirkt ist der gute Personalschlüssel.“ Der Zaun stelle eher einen Schutz vor Außenreizen dar. Jochen Krull leitet die Eingliederungshilfe in Sachsenwaldau bei Reinbek mit 160 Plätzen – inmitten von Natur gelegen und doch gut angebunden. Auf Sozialraumorientierung werde viel Wert gelegt, betonte er, und beklagte die stetig gewachsenen Ansprüche, zum Beispiel an Qualitätssicherung, Reporting und Teilhabeorientierung bei gleicher Mitarbeiterzahl. Derzeit entstehen hier 16 neue Plätze für eine geschlossene Unterbringung, für die 15 Vollzeitstellen vorgesehen seien. Noch wird dafür ein Gebäude umgebaut. Am 1. Juli soll die Belegung starten. Einen Preis mochte er nicht nennen. Der interessiert besonders, da es in der Vergangenheit Planungen von Seiten mehrerer gemeindepsychiatrischer Träger für notfalls geschlossene Unterbringungen in den Gemeinden gegeben hatte, die aber behördlich an der Höhe der Kosten gescheitert waren. Pläne von Asklepios, die kliniknah in Ochsenzoll gelegenen „Lütthus“-Plätze von 30 auf 90 zu erhöhen, waren 2013 wegen der Größenordnung und Nichtinklusivität auf Protest gestoßen – und gescheitert.
Der weitere Blick und die Systemfrage:
Prof. Jürgen Gallinat, Direktor der Universitätspsychiatrie Eppendorf, arbeitete früher u.a. in Berlin-Wedding. Dort gab es einen starken komplementären Sektor, schilderte er, daher gab es in der Regel keine Probleme, Patienten gemeindenah, im Bezirk unterzubringen. Sein Eindruck von Hamburg: Er sei nicht sicher, ob es zu wenig Plätze gebe, eventuell gebe es zu viele Langzeitunterbringungen. Großes Problem sei die Wohnungslosigkeit – da sei es schwierig, sozialraumorientierte Psychiatrie zu machen. Zudem gebe es den Trend, dass Schwerkranke „nicht mehr so gelitten sind wie früher“ und schwierigere Situationen nicht mehr so toleriert würden.
Wolfgang Bayer, Bereichsleiter Sozialpsychiatrie im Rauhen Haus, ist auch bundesweit in Fachverbänden aktiv und bot ebenfalls eine Weitung des Blicks: In Hamburg würden 6500 Menschen über die ASP, in Stuttgart 500 Menschen über ambulante Eingliederungshilfe versorgt – bei 700.000 Einwohnern, Bielefeld hingegen zähle 2500 Eingliederungshilfefälle bei nur 300.000 Einwohnern. Die Unterschiede dürften mit dem System vor Ort zu tun haben. Zumal es auch keinen objektiven Bedarf an geschlossenen Unterbringungen gebe. So halte Stuttgart 40 geschlossene Plätze vor, in Bielefeld seien es nur fünf. Die deutsche Sozialpsychiatrie habe sich auf Ambulantisierung gestürzt und Heime diskreditiert, kritisierte Bayer, der sich als Fan von schützenden Sonderwohnformen bekannte. Wenn in Bielefeld wenig Bedarf an geschlossenen Unterbringungen vorhanden sei, liege es an zwei offenen Einrichtungen mit einem Personalschlüssel von 1 zu 1. Es fehle in Hamburg eine „breite Mitte“ für Menschen mit komplexem Hilfebedarf und mehr personell gut ausgestattete stationäre Einrichtungen, in denen vom Personalmix her auch pflegebedürftige psychisch Kranke versorgt werden können. Dem gegenüber stellte Bayer ein „exorbitant überkandideltes ambulantes System“ mit 135 Treffpunkten (zum Vergleich: Stuttgart hat 7). Bayers Vorschlag: die Hälfte zu schließen und das Geld in intensiv betreute Einrichtungen zu investieren. Die ASP sei „keine Generalantwort“ und funktioniere nicht bei Menschen, die die Wohnung nicht verlassen. Für Wohnungslose schließlich seien die Hamburger Einrichtungen teils viel zu hochschwellig. Hier wünsche er sich eine Art „Hotel Plus“ nach Kölner Vorbild.
Die Behörde:
Der aus der Sozialbehörde geladene Helmut Cordes aus dem Amt für Soziales war im Urlaub, eine Vertretung konnte – wegen Personalmangels, wie es hieß – nicht geschickt werden. Ein Vertreter der Gesundheitsbehörde nannte die Zahl von rund 600 Menschen pro Jahr, die laut Zahlen der Aufsichtskommission auswärts untergebracht sind. Die Bedarfe für Menschen mit höher strukturiertem Hilfebedarf seien wohl nicht so gedeckt, wie es sein sollte, sah er Optimierungsbedarf beim Angebot wohnortnaher, dezentraler, aber kliniknaher Angebote. Das Lütthus-Konzept sei ein Erfolg. Wenn Bedarf da sei, sei der Kostenträger verpflichtet, darüber Verträge zu schließen. Das wiederum bedürfe eines Leistungsanbieters, der bereit ist, eine Einrichtung aufzubauen … Anke Hinrichs
* Es handelte sich um eine Veranstaltung der Arbeitskreise „Klinische Sozialarbeit Hamburg“ und „Gemeindepsychiatrie”
(Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 3 (Mai/Juni) / 2018)