HAMBURG. Was ist richtig, was falsch? Welche Statistiken, welche Studien stimmen? Befürworter und Gegner der Cannabisfreigabe haben sich mit Datenmaterial munitioniert und kommen damit zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Aber wer hat Recht? Der Umgang mit dem Hanfprodukt, so erscheint es dem neutralen Beobachter, wird zur Glaubensfrage, ein Konsens scheint nicht in Sicht. Die Vorträge beim Forum Sucht lieferten dafür Anschauungsmaterial.
Der Umgang mit Cannabis wird von Wissenschaft, Politik und Justiz kontrovers diskutiert. Die geforderte Freigabe von Cannabis stößt auch bei vielen Medizinern auf Widerstand. Bei der 16. Forumsveranstaltung Sucht – Erfahrungsaustausch zur klinischen Entzugsbehandlung – in der Asklepios Klinik Nord prallten bei Vorträgen die unterschiedlichen Auffassungen einmal mehr hart aufeinander. Während Prof. Dr. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), vehement gegen eine Liberalisierung argumentierte, forderten der Sozialwissenschaftler Dr. Jens Kalke und der Jurist Heiko Mohrdiek ein Ende der Cannabis-Prohibition.
Prof. Dr. Rainer Thomasius ist ein entschiedener Gegner der Legalisierung von Cannabis. Gründe: Die Abhängigkeit von Cannabis beginne bereits im Jugendalter und sehr viel früher als bei Alkohol. Zudem sei dramatisch, dass der pubertäre Konsum zu signifikanten kognitiven Funktionseinschränkungen führen könne. Jugendliche Konsumierende hätten klar schlechtere Ergebnisse im kognitiven Bereich vorzuweisen als die erst im Erwachsenenalter Konsumierenden. Bei drei Jahren Abhängigkeit in der Pubertät gebe es etwa eine Reduzierung der IQ-Werte (bis zu zehn Punkte). „Es gibt Anzeichen, dass Störungen dauerhaft sind“, so Thomasius. Das jugendliche Gehirn werde geschädigt, da die Hirnreife erst im jungen Erwachsenenalter abgeschlossen sei. Je früher der Missbrauch beginne, desto gravierender seien die Folgen. Auch Versuche an Mäusen mit THC hätten eine neuronale Degeneration in der Adoleszenz bewiesen.
Macht Cannabis aber überhaupt abhängig? Ja, sagt Thomasius. Über die Lebenszeit entwickelten zehn Prozent der Cannabis-Konsumenten eine Abhängigkeit, bei jugendlichen Konsumierenden seien es 17 Prozent. Thomasius: „Das sind sehr hohe Zahlen“. Die Cannabis-Abhängigen seien – im Vergleich zu Alkohol – eine sehr junge Behandlungsgruppe, häufig noch mit komorbiden Störungen: „55 Prozent aller Erstbehandelten sind jünger als 25 Jahre.“
Ein weiterer Faktor ist die Gefahr der Auslösung einer Psychose durch Cannabis-Konsum. „Zehn Prozent der Schizophrenien weltweit könnten verhindert werden, wenn nicht so viel gekifft werden würde“, so Thomasius. Die Wahrscheinlichkeit einer Psychose-Auslösung sei hier um den Faktor 2 erhöht. Hinzu kämen entwicklungspathologische Störungen, also die Behinderung der Entwicklung einer eigenen Identität. Im Klartext: Kiffer zeigen ein eher pubertäres und infantiles Verhalten. Und sie gefährden ihre berufliche Zukunft: „63 Prozent der jugendlichen Kiffer erreichen keinen Schulabschluss.“ Zudem kämen noch somatische Folgen des Konsums hinzu.
Nächster Punkt: Die Gefahren für Dritte. Da Cannabis zu motorischen und kognitiven Einschränkungen führt, ist das Autofahren unter Cannabis ein Problem. Besonders gefährlich hier sei gerade die Fahrt unter Restintoxikation, also wenn der Fahrer glaube, wieder klar zu sein. Insofern, so Thomasius, könne er über die Bremer Gesetzesinitiative – die Landesregierung will, analog zum Promille-Alkoholgehalt, Grenzwerte für Cannabis im Blut einführen – nur den Kopf schütteln. „Cannabis ist keine Alltagsdroge“, unterstrich Thomasius zum Abschluss seiner Ausführungen, als er auf die Ergebnisse der Liberalisierungsbemühungen in anderen Staaten einging. Bei einer liberalen Drogenpolitik, so seine These, sei die Prävalenz hoch. Schlimmer noch: In Bundesstaaten in Australien, wo Cannabis liberalisiert wurde, sei das Einstiegsalter um zwei Jahre nach vorn verlegt. Und auch in den US-Staaten mit einer legalen Abgabe wie etwa Colorado gebe es ein höheres Konsummuster und einen hohen illegalen Konsum. Thomasius: „In Ländern mit liberaler Cannabis-Politik wird mehr gekifft als in anderen Ländern wie etwa Deutschland. Eine restriktive Drogenpolitik hat einen konsumbegrenzenden Effekt. Eine leichtere Verfügbarkeit von Cannabis führt zu hohem Konsum. Und: Das Cannabisverbot hält Kinder- und Jugendliche vom Konsum ab.“ Zudem verwies er auf die hohen Kosten einer Legalisierung. In Colorado werde ein enormer Aufwand bei der Kontrolle des legalen Cannabis-Marktes betrieben.
Das Betäubungsmittelgesetz müsse, so Thomasius, das Angebot und den Handel reduzieren, um damit auch den Konsum zu senken. „Wir müssen uns hüten, dass nach Alkohol und Tabak noch eine dritte Problemsubstanz hinzukommt. Es darf aber natürlich keine Kriminalisierung der Konsumenten geben.“ Gut sei eine Verschränkung von Maßnahmen der Angebotsreduzierung mit verhaltenspräventiven Maßnahmen zur Nachfragereduzierung.
Völlig anders ist da der Ansatz von Rechtsanwalt Heiko Mohrdiek. Für ihn ist die Cannabis-Prohibition schlicht „verfassungswidrig“. Er sieht sich in seiner Position bestätigt von 122 Strafrechtsprofessoren, die vom Bundestag eine Überprüfung des Betäubungsmittelgesetzes forderten. Mohrdiek gehört einem Kreis von SPD-Juristen an, die sich für die vollständige Freigabe von Cannabis für Erwachsene und eine erforderliche Entkriminalisierung einsetzen. Der Straftatbestand solle beschränkt sein auf die Abgabe an unter 18-Jährige.
Die Aussage von Prof. Thomasius, dass sich der Konsum bei liberaler Drogenpolitik erhöhe, zweifelte Mohrdiek an: „Es gibt keinen generalpräventiven Effekt.“ Für die Repression im Bereich der illegalen Drogen gebe der Staat 3,4 bis 4,4 Milliarden Euro aus. „Das Verhältnis der Ausgaben für Repression im Vergleich zu Hilfe und Therapie liegt bei 7:3. Die Repression verschlingt erhebliche Mittel und hat keinen Effekt auf die Konsumverteilung.“
Mohrdiek sieht das umfassende Recht auf Achtung und Entfaltung der Persönlichkeit durch die Cannabis-Prohibition eingeschränkt. Denn man habe auch das Recht, sich selbst zu schädigen. Auch der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) sei verletzt, denn welche Gründe gebe es, Cannabis anders zu behandeln als Alkohol? Anders als Thomasius sieht Mohrdiek Cannabis als Alltagsdroge: „15 bis 20 Prozent der jungen Erwachsenen werden zu den aktiven Konsumenten gezählt, nach konservativer Einschätzung gibt es deutlich über drei Millionen Cannabis-Konsumenten in Deutschland. Sie kommen aus allen Schichten, Altersgruppen und Ethnien.“ Und dies alles trotz „schwerwiegender Strafandrohungen.“
Die Repression habe für die betroffenen Konsumenten zum Teil eine erhebliche Stigmatisierung und Etikettierung zur Folge. Beispiele: Einträge ins Führungszeugnis, die Verwehrung von Umschulungsmaßnahmen, Nachteile beim Sorgerecht und Fahrerlaubnisrecht. Zudem gebe es durch den illegalen Markt gesundheitliche Gefahren (z.B. Streckung der Substanz durch Blei), der präventive und helfende Zugang werde erschwert und die organisierte Kriminalität gefördert.
Der Weg zur Legalisierung ist aber noch weit. So hatte Dr. Jens Kalke vom Institut für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung Hamburg in seinem Vortrag darauf verwiesen, dass es Modellversuche zur kontrollierten Cannabis-Abgabe an Erwachsene wohl in den nächsten fünf bis sechs Jahren nicht geben werde (siehe EPPENDORFER 5, S.1). Die gesetzlichen Hürden für einen Modellversuch seien zu hoch und die Chancen, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM) einen Antrag bewilligen werde, nicht realistisch.
Die Bremer Bürgerschaft habe aber dem Senat im April grünes Licht gegeben, eine Bundesratsinitiative zu starten, um die Grundlage für einen Modellversuch zu schaffen. Hat die Initiative Erfolg, könnte jedes Bundesland selbst über einen Modellversuch entscheiden.
Auch Kalke zweifelte mit eigenen Zahlen Erfolge der Repression an. In Italien habe sich der Konsum trotz einer Erhöhung des Strafmaßes erhöht, in Großbritannien habe sich bei Reduzierung des Strafmaßes auch der Konsum verringert.
Fazit: Jedes Lager hat für seinen Standpunkt in der Debatte um die Cannabis-Legalisierung gute Gründe auf seiner Seite, wobei es schon irritiert, dass sich völlig widersprechende Behauptungen aufgestellt werden. Einen Nenner gibt es aber: Gewünscht wird mehr Datenmaterial zu diesem Komplex. Michael Freitag