Interview mit Doris Kratz-Hinrichsen über Geflüchtete mit Behinderungen. Die Referentin für Flucht und Migration beim Diakonischen Werk Schleswig-Holstein hat einen Leitfaden für den Umgang mit Betroffenen erstellt.
Frau Kratz-Hinrichs, Geflüchtete sind jung, kräftig, männlich – so jedenfalls das Klischee, das die öffentliche Debatte beherrscht und im politischen Raum von bestimmten Parteien vertreten wird. Nun reden Sie über Geflüchtete mit Behinderungen. Geht es da um Einzelfälle oder sprechen wir von einer größere Gruppe?
Doris Kratz-Hinrichsen: Es gibt bis heute keine offiziellen Zahlen. Aber seit 2014, als die Zahl von Geflüchteten stark zugenommen hat, tauchen immer wieder Menschen mit Behinderungen in unseren Beratungsstellen auf. Seit wir ein Augenmerk darauf haben, ist uns aufgefallen, dass es immer mehr werden. Um festzustellen, ob es sich um ein flächendeckendes oder ein regionales Phänomen handelt, haben wir 2016 eine landesweite Abfrage gestartet.
Wie haben Sie das gemacht?
Kratz-Hinrichsen: Wir haben die Migrationsfachdienste aller Verbände gebeten, Fragebögen zu verteilen. Die Auswertung ergab, dass zehn bis 15 Prozent aller Ratsuchenden eine Behinderung haben. Das entspricht ziemlich genau dem Behindertenanteil in der Gesamtbevölkerung. Das ist wichtig, denn damit kann man die Aussage widerlegen, Menschen mit einer Erkrankung oder Behinderung würden gezielt nach Deutschland kommen, um sich hier behandeln zu lassen. Wir hätten gern bundesweit Fragebögen verteilt, aber schon in Schleswig Holstein haben wir Menschen aus 120 Ländern in den Beratungsstellen und der medizinischen Versorgung. Also dürfte es eine belastbare Zahl sein.
Was gilt eigentlich als Behinderung, und gibt es Unterschiede zwischen den Ländern?
Kratz-Hinrichsen: Es gibt eine Definition der UNO, die weltweit gültig ist. In Deutschland entsprechen die Kriterien des Schwerbehindertenausweises dieser Definition. Bei der Befragung haben wir nicht abgefragt, welche Art von Behinderung vorliegt, sondern nur, ob die Kriterien erfüllt sind.
Wie sieht es aus mit psychischen Störungen?
Kratz-Hinrichsen: Der Anteil ist sicherlich höher als in der hier lebenden Bevölkerung, allein weil viele Menschen durch die Flucht und die Erfahrung im Heimatland starken Belastungen ausgesetzt waren. Hinzu kommt, dass Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörung selten auf den ersten Blick zu sehen sind. Wenn ein Arm oder Bein fehlt oder jemand im Rollstuhl sitzt, fällt die Behinderung sofort auf. Psychische Probleme sind schambesetzt, sie werden eher verschweigen. Überhaupt muss niemand über eine Behinderung berichten, diese Selbstauskunft ist freiwillig. Da die Betroffenen nicht wissen, dass ihnen zusätzliche Hilfe zustehen würde, schweigen viele.
Dass heißt, es gibt eine hohe Dunkelziffer?
Kratz-Hinrichsen: Bei den Behörden fallen viele Behinderungen nicht auf. Wenn ein Mensch zu uns kommt, ist bereits Zeit verloren worden, und das Problem ist größer. Denn wenn die Behörden nicht wissen, dass eine Behinderung vorliegt, erhalten diese Menschen nicht die nötige Hilfe.
Was heißt das konkret für die Betroffenen?
Kratz-Hinrichsen: Wenn die Behinderung bei der Erstaufnahme nicht erkannt wird, kann es passieren, dass Menschen aus der Landes-Erstaufnahme in Neumünster an Orte ohne passende Angebote geschickt werden. Es kam schon vor, dass ein Mann im Rollstuhl eine Wohnung im vierten Stock ohne Fahrstuhl erhielt. In einem anderen Fall musste eine Familie ihre gehbehinderte Tochter für jeden Toilettengang zwei Treppen hoch tragen.
Wie ist denn die rechtliche Lage von Geflüchteten mit Behinderung? Anderes gefragt: Sind behinderte Flüchtlinge im System überhaupt vorgesehen?
Kratz-Hinrichsen: Nein, sind sie nicht. Zwar gibt es rechtliche Vorgaben, sie werden aber nicht umgesetzt. Laut der EU-Aufnahmerichtlinie sollen besonders schutzbedürftige Gruppen die bestmögliche medizinische Hilfe bekommen. Aber in der Praxis gilt das nationale Recht, dass Menschen im Asylverfahren oder mit einer Duldung nur eingeschränkte Hilfe garantiert, etwa Notfallbehandlungen oder Schmerzlinderung.
Sind die Behörden unfähig oder unwillig?
Kratz-Hinrichsen: Ich denke, die Beschäftigten in den Behörden gehen genau von dem angesprochenen Klischee-Bild aus: Geflüchtete sind jung, männlich und gesund. Dies hat sich aber stark geändert. Der Anteil von Frauen liegt teilweise bei 40 Prozent, ein Viertel sind Kinder. Man kann den Behörden allerdings keinen Vorwurf machen, schließlich ist diese Entwicklung vergleichsweise neu und ist auch uns erst vor kurzem aufgefallen. Es dauert, bis die eingefahrenen Wege sich so ändern, dass sie für die neuen Gruppen begehbar werden.
Bis es soweit ist: Was passiert, wenn ein Mensch mit einer Behinderung in der Beratungsstelle sitzt und Hilfe braucht?
Kratz-Hinrichsen: Dann geht es darum, in diesem Einzelfall zu helfen. Die Stelle besorgt medizinische Gutachten, nimmt Kontakt zum Landesamt für soziale Dienste auf und beantragt einen Behindertenausweis. Darauf hat jeder Anrecht, egal mit welchem Status – aber diese Information war anfangs nicht einmal im Landesamt bekannt. Entsprechend wurden Fälle oft abgelehnt. Heute ist das Verfahren eingespielt. Wenn Unterlagen fehlen, ordnet das Landesamt Untersuchungen an und zahlt auch einen Dolmetscher.
Das klingt, als ob es ganz gut laufen würde?
Kratz-Hinrichsen: Es gibt immer wieder Fälle, in denen es nicht läuft. So werden Kinder nicht beschult, weil es an ihrem Wohnort keine passende Schule gibt. Schwierig sind auch Sprach und Integrationskurse. Sehbehinderte müssten nach Hamburg fahren, dort sind die Plätze aber begrenzt. Eine Frau in Kiel wartet trotz guter Bleibeperspektive seit über zwei Jahren auf einem Integrationskurs.
Gibt es Hilfen jenseits des Regelsystems?
Kratz-Hinrichsen: Seit einigen Jahren läuft ein Projekt, bei dem es unter anderem darum geht, Netzwerke zu bilden und Einrichtungen zu schulen, kultursensibel mit Menschen aus anderen Ländern umzugehen. Gut ist, dass es überhall im Land Akteure gibt, die sich gegenseitig gut kennen. Aber auch da ist noch viel zu tun. Gegenseitige Hilfe ist wichtig. Wir betreuen zwei Familien, die ein Kind mit dem Down-Syndrom haben und aus der gleichen Stadt im Iran stammen. Sie haben einander erst hier getroffen und unterstützen einander.
Sie haben einen Leitfaden erstellt, an wen richtete er sich und was steht drin?
Kratz-Hinrichsen: Er richtet sich an alle Hauptamtlichen der Migrationsfachstellen und Beratungsstellen, an die Ehrenamtlichen und die Geflüchteten selbst. Bisher gibt’s den Leitfaden auf Deutsch, er soll nun in fünf Sprachen übersetzt werden. Darin gibt es Tipps, darunter ein ideal-typisches Verfahren und eine Liste aller Ansprechpartner. Wir wünschen uns, dass bei der Erstberatung das Thema Behinderung direkt angesprochen und auf die Selbstauskunft hingewiesen wird.
Gibt es darüber hinaus politische Forderungen?
Kratz-Hinrichsen: Unter anderem müsste das Thema Gesundheit ins Landesmigrations-Gesetz aufgenommen wird. Bisher hat das Sozialministerium dieses Thema nicht genannt. Besondere Probleme gibt es beim Arbeitsmarktzugang. Das Aufenthaltsrecht geht von arbeitsfähigen Gesunden aus, der über seine Arbeit ein Bleiberecht erwirbt. Menschen mit Behinderung stehen unter einem doppelten Druck, weil sie keine angemessene Versorgung erhalten und gleichzeitig eine schwierigere Bleibeperspektive haben. Daher wäre die wichtigste Forderung, die Menschen gemäß der EU-Verordnung mit der bestmöglichen Hilfe zu versorgen statt mit dem Minimum. Wir haben der Landespolitik vorgeschlagen, dazu eine Initiative im Bundesrat zu starten. Die Reaktionen waren, das kann man sich vorstellen, in der Fraktion unterschiedlich. Wir hoffen nun auf die Jamaika-Regierung.