Könnte es sein, dass Stress oder falsche Ernährung Infektionen auslösen, die bei der Entstehung einer Depression eine entscheidende Rolle spielen?Viele Wissenschaftler sind davon inzwischen überzeugt. Zumindest in Bezug auf die Patienten, bei denen klassische Antidepressiva nicht wirkten. Könnten diese Millionen an Patienten mit hohem Leidensdruck künftig mit entzündungshemmenden Medikamenten erfolgreich behandelt werden? Fragen, denen eine aktuelle Wissenschaftsdokumentation von Dorothee Kaden und Carsten Schollmann mit dem Titel „Depression – neue Hoffnung?“ nachgeht. Arte strahlte sie im April erstmals aus, gefolgt von einer französischen Dokumentation von 2013 über Zusammenhänge zwischen Darmbakterien und Psyche („Der kluge Bauch – unser zweites Gehirn“). Beide Dokumentationen sind inzwischen auf YouTube eingestellt (https://www.youtube.com).
BERLIN (hin). Depressionen sind offenbar weit ganzheitlicher zu betrachten als viele Jahre angenommen bzw. suggeriert. Jahre, in denen vielfach einseitig auf die Theorie des Botenstoffmangels und die Therapie mit Antidepressiva gesetzt wurde, die diesen ausgleichen sollte. Dabei brauchen sie zwei bis vier Wochen, bis sie wirken. Wenn sie wirken: Jeder Dritte springt nicht darauf an. Menschen, die lange leiden und erfolglos von einem aufs nächste Antidepressivum wechseln. Hintergrund sei, dass über die Mechanismen und auch Prozesse, durch welche die Wirkung von Antidepressiva zustande kommt, „keine abschließende Klarheit besteht“, so eine Erklärung der Pharmafirma Pfizer gegenüber den Arte-Dokumentarfilmern.
Neue Wirkstoffe? Seit langer Zeit Fehlanzeige. Nicht nur bei Pfizer konzentrieren sich die Forschungsaktivitäten inzwischen auf andere Felder. Doch es gibt sie: neue, hoffnungsvolle Spuren, die zum Immunsystem und zu den Zusammenhängen zwischen Stress, falscher Ernährung und Infektionen führen. Um dem nachzugehen, reisten die Produzenten der Arte-Doku nach London (Kings College, Prof. Carmine Pariante), Los Angeles (University of California, Prof. George M. Slavich) und Berlin (Charité, Schlossparkklinik).
Die Verschreibungszahlen für Antidepressiva kletterten unaufhörlich in die Höhe, in Deutschland wurden 2013 der Doku zufolge 1,5 Milliarden Tagesdosen verschrieben. Die Wirksamkeit ist heute umstritten. Der Chefarzt der Berliner Schlossparkklinik, Prof. Tom Bschor, Mitglied der Arzneimittelkommission, bezeichnet Antidepressiva als wichtig, macht vor der Kamera aber deutlich: Lange sei in Fachzeitschriften berichtet worden, dass 94 Prozent aller Studien zeigen würden, dass Antidepressiva besser als Placebos wirken, in Wirklichkeit seien es nur 50 Prozent – die unpassenden Studien seien nicht veröffentlicht worden. Einer großen Metaanalyse zufolge habe es unter Antidepressivaeinnahme auch genauso viele Suizidversuche gegeben wie unter Placebos, einzelne Studien zählten sogar mehr …
Neue Wege bietet nun das Immunsystem. Seit den 90er Jahren sei bekannt, dass es „multiple Pfade“ gibt, über die das Immunsystem Gehirnfunktionen beeinflussen kann, so Prof. Carmine Pariante. Prof. George Slavich spricht von kleinen „Highways“ – Lymphgefäßen, Kapillaren, die zwischen Gehirn und der Peripherie des Körpers verlaufen und Stoffe transportieren. Offenbar hängen Körper und psychische Leiden enger zusammen als gedacht. Einer Studie zufolge zeigten sich depressive Symptome um so ausgeprägter desto höher die Entzündungswerte waren.
Schwenk nach Los Angeles. Dort geht man der Vermutung nach: Je stärker die Stressreaktion, desto mehr Entzündungsreaktion. Eine Erklärung biete die Evolutionsgeschichte: Früher wurde das Immunsystem bei Gefahr aktiviert, um bei Verletzungen eindringende Bakterien und Viren sofort bekämpfen zu können. Heute sei der Stressor meist emotionaler Natur, aber der Mechanismus der gleiche, erklärt Prof. George M. Slavich.
Auch der Darm hat es in sich: So wurde beobachtet, dass Medikamente gegen Entzündungen im Darm oft auch gegen depressive Symptome helfen würden. Eindrücklich ist, inwieweit offenbar Fast Food, tierische und wenig Omega-3-Fette, Zucker, Zusatzstoffe und wenig Gemüse die Bakterien fördern, die auch Entzündungsbotenstoffe produzieren – und welche Folgen daraus konstruiert werden können. Zumal: Wer lebenslang industriell produziertes Fleisch isst, konsumiert auch lebenslang geringe Antibiotikadosen, was eine entscheidende Rolle für die Mikrobenvielfalt im Darm spielen könnte, so die Theorie.
Ansatz der Forscher in L.A. ist nun, herauszufinden, wer anfällig ist, auf sozialen Stress mit Entzündungen zu reagieren und das Risiko in sich trägt, in der Folge an Depressionen zu erkranken. Wenn man dieses in Zukunft – etwa per Bluttest und Hirnscans – vorhersagen könne, könne man vorbeugende Therapien für Gefährdete entwickeln, so die Hoffnung.
Hoffnung auch in Berlin: Dort, an der Charité, startete 2016 eine Studie mit 160 depressiven Patienten aus sieben Kliniken, denen entzündungshemmende Medikamente oder Placebos verabreicht werden. So auch Proband Albert, bei dem alle Antidepressiva wirkungslos blieben. Er glaubt, dass er das Antibiotikum bekommen hat: Schon nach einer Woche sei alles anders gewesen, seit zwei Monaten gehe es ihm stabil besser. Auch die Berliner Forscher träumen davon, künftig vor der Behandlung herausfinden zu können, was bei dem jeweiligen Patienten anschlägt.
Einen wichtigen Schritt in Richtung personalisierte Therapie haben auch Grundlagenforscher eines Konsortiums aus Universitäten und Pharmafirmen in London getan, die in einer mehrjährigen Studie nach neuen Wirkstoffen suchen, die verhindern, dass das Immunsystem Depressionen auslösen kann. Hier wurden bereits zwei Zytokine gefunden, über deren Höhe das Ansprechen auf Antidepressiva gemessen werden kann. Diesen Patienten konnte das Schlucken nicht wirksamer Antidepressiva erspart werden.