Warum Peter Lehmann Zeit seines Lebens für Aufklärung über die Risiken von Psychopharmaka kämpft: In unserer Serie „Hausbesuch“ besuchen wir in loser Folge Menschen, die der Psychiatrie etwas zu sagen haben.
Einen Hausverlag betreibt er, im wahrsten Sinne des Wortes: Peter Lehmann „residiert“ mit seinem „Antipsychiatrieverlag“ im 4. Stock eines Charlottenburger Altbaus. Dort arbeitet er, dort wohnt er heute zusammen mit seiner Frau Kerstin Kempker. Wie er war sie Mitbegründerin des Berliner Weglaufhauses, heute ist sie Schriftstellerin. Der inzwischen 74-jährige Diplom-Pädagoge, Autor und Verleger steht für einen kritischen Blick auf Psychopharmaka, der sich auch aus eigener Erfahrung speist und zunächst in sein Erstlingswerk „Der chemische Knebel“ mündete. Den Verlag gründete er schließlich, um unabhängig eigene Bücher und andere psychiatriekritische Werke verlegen zu können. Sie werden bis heute vor allem von Betroffenen gelesen, aber auch von Angehörigen und professionell Tätigen. Was ihn antreibt, worum es ihm vor allem geht und wieso er gelegentlich mit dem Begriff „Antipsychiatrie“ hadert, erzählt der Berliner mit Wurzeln im Schwarzwald beim Hausbesuch – bei Cappuccino und Keksen in einer großen Wohnküche.
Der Diplom-Pädagoge, Autor und Verleger steht für einen kritischen Blick auf Psychopharmaka
BERLIN. Er ist wohl etwas bedächtiger geworden. Auch der Verlag, v.a. das Equipment – PC und Publishing-Programm – sind in die Jahre gekommen, so auch die Website antipsychiatrieverlag.de. Sein jüngstes Buch, „Psychopharmaka reduzieren und absetzen. Praxisrezepte für Fachkräfte, Betroffene, Angehörige“, für das er gemeinsam mit Craig Newnes als Herausgeber fungiert, ist gleichzeitig in seinem Verlag und im Psychiatrie-Verlag erschienen. Das markiert auch eine Form von Etablierung und Akzeptanz als ernstzunehmende Stimme unter kritischen Profis. Und ist Ergebnis einer Entwicklung, die 2014 einsetzte.
Damals zog Asmus Finzen nach Berlin, rief den streitbaren Verleger an und schlug ein Treffen vor. Folge war ein gemeinsames erstes Symposium zum Thema Absetzen bei einem DGSP-Kongress in Bremen. Das Thema habe Finzen vorgeschlagen. Nicht aus Übereinstimmung mit Lehmanns Psychopharmakakritik, sondern weil Finzen hier Lehmanns größte Kompetenz sah und er es für einen ärztlichen Kunstfehler hielt, nicht beim Absetzen zu helfen, so Lehmann. Die Mainstream-Psychiatrie leugne Entzugsprobleme bei Antidepressiva und Neuroleptika bis heute, kritisiert er. Prof. Andreas Heinz spreche immerhin von einer Art Entzugssyndrom und nehme damit eine Mittelposition ein. Auf die Finzen-Kooperation folgte ein positiver Kontakt mit dem damaligen DGPPN-Präsidenten Heinz, der Lehmann im Geleitwort zu dessen 2017 erschienenen Buch „Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika“ als wichtige kritische Stimme würdigte und die Bedeutung der Aufklärung über unerwünschte Psychopharmaka-Wirkungen hervorhob.
Sohn eines Buchdruckers und einer Kauffrau
Wie wurde Lehmann, was er ist? Alles begann, als der Sohn eines Buchdruckers und einer Kauffrau für ein Pädagogikstudium nach Berlin zog – eigentlich, um der Bundeswehr zu entgehen. Parallel zu seinem Studium arbeitete er in einer Buchhandlung. Kurz vor der mündlichen Prüfung 1977 „rastete er aus“. Es folgten Diagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis, Monate in der Psychiatrie inklusive Zwang, Fixierung, Haldol (täglich 600 Tropfen!), Depotspritzen, zuletzt Depottabletten. Einmal, „in gemeindenaher Freiheit“, vergaß er deren Einnahme – der prophezeite Rückfall blieb aus. Diese Erfahrung prägte ihn nachhaltig. „In meiner Psychosozialen Patientenverfügung steht: Im Fall des Falles will ich Schokolade, Rotwein und die Nähe meiner Lieben, auch nachts. Aber was mir hilft, ist kein Patentrezept für andere.“
Wesentlich sei, dass man sich nach überstandener Krise damit auseinander setzt, in welchen Situationen man „ausrastet“: „Sonst ist es wie nach einem Herzinfarkt, wenn man weitermacht wie vorher.“ 1980 gründete er eine Selbsthilfegruppe. Dort hätten sie sich unter anderem daran gemacht, sich selbst „auf die Schliche zu kommen“. Es ging um Eigenverantwortung. „Ich habe mich geändert, gelernt, mich zu wehren, Risiken einzugehen und nicht mehr die Augen zu verschließen, wenn etwas schief läuft.“ Ein Kurs bei einem indianischen Schamanen habe ihm ebenfalls zur Selbsterkenntnis geholfen.
Lehrbeauftragter für Antipschiatrie an der TU
1980 bis 1982 war er Lehrbeauftragter für Antipsychiatrie an der TU, 1986 gründete er seinen Verlag. Sein Bestseller „Psychopharmaka absetzen“ von 1998 sei weltweit das erste Buch zu diesem Thema gewesen, mittlerweile liegt es in der 5. Auflage vor. Zu den Büchern gesellten sich Meriten für seinen Kampf für Menschenrechte. 2010 wurde Lehmann Ehrendoktor in Thessaloniki, vermittelt durch den dortigen Psychologieprofessor Kostas Bairaktaris. Bis heute gibt Lehmann Fortbildungen in Griechenland, wo drei Bücher von ihm auf griechisch erschienen sind. 2011 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.
Lehmann blieb und bleibt unbequem. Mit seiner Haltung konnte er bei einigen nicht andocken, etwa bei Klaus Dörner, dem er ein zu unkritisches Verhältnis zu Neuroleptika und Elektroschocks vorwirft. Dorothea Buck stand er dagegen nahe. Er war lange mit ihr im Vorstand des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener (BPE) und erstellte ihre Homepage. Heute sei er eine Unperson im BPE, nachdem er den Verband wie manch andere Moderatere nach Kritik an der Machtpolitik des Vorstands verließ, so seine Worte.
Wer heute für die Betroffenen spreche sei unklar: „Es gibt keine gemeinsame Position. So wie Psychiater untereinander zerstritten sind, sind auch die Betroffenen uneins.“ Weil die Interessen so verschieden seien: Viele würden Zwangsbehandlung ablehnen, manche berichten aber auch positiv über ihre Zeit in der Psychiatrie, so Lehmann. Es gebe aktuell in Deutschland keinen repräsentativen Verband. „Es gibt NetzG, ein kleines Pflänzchen, die versuchen was, dort bin ich derzeit Mitglied, die hängen aber noch am Tropf der Aktion Psychisch Kranke.“
Lehmann vertritt eine „humanistische Antipsychiatrie”
Lehmann selbst vertritt eine „humanistische Antipsychiatrie“, die nicht dogmatisch ist. Das griechische „Anti“ bedeutet mehr als nur ein simples „gegen“ wie etwa bei Antipsychotika, sondern auch „alternativ“. Für ihn geht es um uneingeschränkte Menschenrechte, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, um Aufklärung über die Risiken von Psychopharmaka und Unterstützung beim Absetzen. Er lehnt Psychopharmaka nicht per se ab, findet aber, jeder müsse selbst entscheiden. Und es gebe Menschen, die ohne Minimaldosierungen nicht zurechtkommen. Aber eine Behandlung ohne informierte Zustimmung sei laut Strafrecht und laut UN-Behindertenrechtskonvention nun mal unrechtmäßig.
Weil es zu wenig Unterstützung für Menschen gebe, die an den Begleitwirkungen von Psychopharmaka leiden und diese daher reduzieren wollen, wird er oft um Rat gefragt. Eine Verantwortung, die belasten kann. Lehmann holt einen Mail-Ausdruck aus seinem Büro und liest einen Hilferuf an ihn vor. Eine Frau berichtet von jahrelangen quälenden Neuroleptika-Wirkungen: Nach Mimikstörungen und Umstellung folgte Gewichtszunahme bis auf 118 Kilo. Sie fühle sich innerlich tot und empfinde keine Lebensfreude. „Ihre Bücher kann ich leider nicht lesen, da ich auch Konzentrationsprobleme habe… und ich habe früher gern und viel gelesen.“ Vielleicht kann er jemand vermitteln, der ihr hilft, überlegt er. Ganz langsam, mit ärztlicher Begleitung. Mit individuellen Rezepturen oder Ausschleichstreifen. „Das kann Jahre dauern.“
Seine Kernforderung: Vor Erstverabreichung Information über Absetzprobleme
Lehmanns Kernforderung: Dass vor der Erstverabreichung informiert wird, dass Absetzen ein großes Problem sein kann. Es müsse geforscht werden, wie chronische Entzugsprobleme gemildert werden können. Entzugsprobleme im Zusammenhang mit Antidepressiva und Neuroleptika müssten in die Ausbildung aufgenommen werden. „Es müsste eine Differenzialdiagnose sowie eine Diagnose Antidepressiva- bzw. Neuroleptika-Abhängigkeit geben, damit Ärzte Entzugsprobleme von einem sogenannten echten Rückfall unterscheiden sowie eine Begleitung beim Absetzen abrechnen können.“ Und: Ärzte, die sich vor einer umfassenden Aufklärung drücken, sollten zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.
Die Themen sind geblieben, doch was bleibt nach fast 40 Jahren Buchhandel? Seinen Traum von einem großen Verlag musste er aufgeben. Heute hofft er auf eine Nachfolge, sortiert seinen Nachlass und erwägt, ob seine angefangene Dissertation noch verwendbar ist. Zwischendurch bewegt er sich, zum Beispiel mit Tischtennis – die Bandscheibe zwingt ihn dazu –, und genießt seine „Datsche“ am See in Mecklenburg. Anke Hinrichs (Erstveröffentlichung im Eppendorfer 6/24)