Antidepressiva:
„Keine Entwarnung!“

Die Verordnung von Antidepressiva hat stark zugenommen. Symbolfoto: Nastya Dulhiier/Unsplash

Experten der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) werfen den Autoren einer aktuellen Metaanalyse zum Thema Absetzsymptome in einer Stellungnahme vor, die „Entzugssymptomatik“ zu verharmlosen und auf Studien mit methodischen Mängeln zurückzugreifen. Die einbezogenen Studien seien viel zu kurz und zu unterschiedlich und Absetzsymptome bei manchen gar nicht primäres Forschungsinteresse. Überhaupt seien die meisten der Studien von der Industrie finanziert gewesen. Die Sorge der DGSP-Experten PD Michael P. Hengartner, PD Stefan Weinmann und Markus Kaufmann: Falsche Information von Patienten mit der Folge, dass diese Antidepressiva länger einnehmen als notwendig.

Laut der im Fachjournal „The Lancet Psychiatry“ veröffentlichten Überblicksstudie erlebe umgerechnet (und einen Placeboeffekt herausgerechnet) eine von sechs bis sieben Personen  nach einem Absetzen unangenehme Symptome. Tatsächlich berichteten 31 Prozent  von Symptomen, 2,8 Prozent sogar von schweren. Patienten, die Placebos erhielten, gaben aber zu 17 Prozent auch Absetzsymptome an, 0,6 Prozent sogar schwere. Für die Analyse  wurden die Daten von 20.000 Personen aus 79 Studien untersucht.

Kritik am Ausdruck „Absetzsymptome”

Auf Kritik der DGSP-Experten stößt auch der Ausdruck „Absetzsymptome”. „Es erstaunt mich, dass hier der 1997 durch eine aggressive Marketingkampagne der Pharmaindustrie ins Leben gerufene Begriff Absetzsyndrom und nicht der in der Pharmakologie und Suchtmedizin etablierte Begriff Entzugssyndrom bzw. Entzugsreaktion verwendet wird“, so PD Michael Hengartner, Dozent und klinischer Psychologe aus Zürich, in einem Statement für das Science Media Center (SMC). „Absetzreaktion“ sei insofern irreführend, als es suggeriere, dass solche Symptome nur beim Absetzen auftreten. Dabei können sie auch bei Dosisreduktionen und Medikamentenwechseln auftreten. Zudem sei weithin akzeptiert, „dass körperliche Abhängigkeit sich darin manifestiere, das beim Absinken eines Substanzspiegels substanzspezifische Entzugssymptome auftreten“.

Bezeichnung als Nocebo-Effekt „falsch”

Dass auch in einer kleinen Placebo-Gruppe aufgetretene Absetzphänomene als Nocebo-Effekt bezeichnet werden, sei falsch. Denn: Es seien einfach alle unerwünschten medizinischen Ereignisse wie Kopfschmerzen, Müdigkeit oder Bauchkrämpfe zusammengetragen worden, die auch unabhängig von Medikamenten relativ häufig aufträten. Um zu klären, ob dies wirklich mit Antidepressiva in Zusammenhang stehe, müsse man eine Placebo-Absetzgruppe mit unbehandelten Personen vergleichen.

„Konsumierte Menge von Antidepressiva verdreifacht”

 Die DGSP hatte erst im April in einem Begleitschreiben zu einem Antidepressiva-kritischen britischen Aufruf von  „erschreckenden“ Verordnungsmengen und einer dramatischen Verschreibungssituation gesprochen. Die konsumierte Menge von Antidepressiva habe sich zwischen 2000 und 2022 verdreifacht. „Wurden 2000 von 1.000 Personen durchschnittlich 21 DDD (daily defined doses = definierte tägliche Dosen) verabreicht, waren dies 2022 bereits 64 DDD“, heißt es. Das bedeute, dass zwischen 5-10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland Antidepressiva verordnet werden.“ Deutschland liege damit im Trend der anderen europäischen Länder, wenn auch noch deutlich unter dem UK mit fast 140 DDD/1.000 Personen.

Antidepressiva werden nicht nur gegen Depressionen, sondern beispielsweise auch im Bereich der Schmerztherapie, bei Angst- und Zwangsstörungen oder hartnäckigen Schlafstörungen und bei posttraumatischen Belastungsstörungen verschrieben. Hinzu kommen Verordnungen bei Indikationen wie chronischer Schmerzzustand, Schlaflosigkeit, funktionelle Organbeschwerden oder Entzugssymptome bei Medikamenten-, Alkohol- und Drogenabhängigkeit. (hin)

(Ausführlicherer Bericht zum Thema in der aktuellen Printausgabe 4/24)

Quellen: Henssler J et al. (2024): Incidence of antidepressant discontinuation symptoms: a systematic review and meta-analysis. The Lancet Psychiatry. DOI: 10.1016/ S2215-0366(24)00133-0.
SMC-Statements auf www.sciencemediacenter.de (vom 6. Juni 2024).
DGSP-Statement unter: https://www.dgsp-ev.de/veroeffentlichungen/standpunkte-stellungnahmen