Wer bin ich? Die Frage nach der persönlichen Identität ist so alt wie die Menschheit. Geht es um die sexuelle Identität, ist die Frage jedoch aktueller denn je, wie die Diskussion um die „Ehe für alle“ zeigt. Für viele homosexuelle Paare bringt die neue Gesetzgebung Erleichterung. Die Probleme transsexueller Menschen bleiben dagegen bestehen. Ihre psychothera- peutische Begleitung erfordert ein umfangreiches Wissen über juristische, medizinische und psychosoziale Zusammenhänge.
BREMEN. Bis zu 2,5 Millionen Deutsche identifizieren sich nicht mit dem Geschlecht, in dem sie geboren wurden. Sie fühlen sich wie im „falschen Körper“ oder möchten sich nicht festlegen, besagt eine 2016 von der „Zeit“ veröffentlichte Studie. Nicht alle Transgender-Personen wollen eine Geschlechtsveränderung mit Hormonbehandlung, Operation und komplettem gesellschaftlichem Coming-Out. Einige beschränken sich beispielsweise darauf, zu Hause gegengeschlechtliche Kleidung zu tragen. Denn in der Öffentlichkeit sind Konflikte vorprogrammiert: Transpersonen erleben häufiger Vorurteile, Diskriminierung oder Gewalt. Daher geht es vielen Betroffenen zunächst einmal um Respekt und Anerkennung. Das fängt oft schon mit der „richtigen“ Ansprache an, weiß Alix Schröder aus Erfahrung. „Es gibt allein 50 Bezeichnungen für die verschiedenen Transidentitäten“, betont die psychologische Psychotherapeutin.
Seit 16 Jahren arbeitet sie neben ihrer Praxistätigkeit als Paar- und Sexualtherapeutin bei der pro familia Bremen. Beim ersten Gespräch mit Klienten fragt sie zunächst, wie sie angesprochen werden möchten. Deren Anliegen sind ganz unterschiedlich. Manche seien sich ihrer geschlechtlichen Identität noch gar nicht bewusst, sie fühlten sich nur andersartig und suchten Orientierung. Andere wüssten schon genau was sie wollen, bräuchten aber Informationen zu Institutionen, Ärzten oder Therapeuten. Je nach Bedarf und Fragestellung führt Alix Schröder ein einzelnes Gespräch, manchmal auch mehrere aufeinanderfolgende, zieht Partner und Angehörige hinzu, stimmt sich mit anderen Experten ab und sucht gemeinsam mit den Klienten eine Klärung. Dabei bleibt sie stets in der Rolle der Beraterin, denn „Diagnostik und Therapie können wir als Beratungsstelle nicht leisten“, erklärt Schröder die pro familia-Position. Ebenso unterschiedlich wie die Fragen sind auch die Klienten. „Ich berate nicht nur Jugendliche“, so Schröder, „sondern auch viele Menschen im mittleren Lebensalter und sogar über 70-jährige, die frei von allen Verpflichtungen, auf einmal ganz neu über ihr Leben nachdenken“.
Nicht selten würden sich Eltern, Partner oder andere Angehörige melden, bevor die Klienten selbst kämen. Typische Gesprächsthemen seien die Suche nach der eigenen Identität, die gefühlte Andersartigkeit und Entscheidungen für die Zukunft. Diejenigen, die sich für eine Geschlechtsangleichung entschieden, erlebten zwar oft eine hohe Zufriedenheit. Dennoch sei der Weg dorthin nicht einfach: Oft seien mehrere Operationen nötig, immer wieder können im Umwandlungsprozess Zweifel aufkommen. Manchen fiele der Rollenwechsel und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten doch schwerer als vermutet. Denn auch wenn die Transidentität an sich nicht als psychische Störung gelte, treten dabei gehäuft vermindertes Selbstbewusstsein, Angst, Depressivität, Essstörungen oder sogar Suizidalität auf. Behandelnde Therapeuten stünden daher vor der Aufgabe, ihre Patienten gut durch die störanfällige Zeit zu begleiten. Neben der Beratung gehören auch viel Netzwerkaktivitäten zu Schröders Aufgabe: „Um sich in der komplexen Thematik auszukennen, muss man gut vernetzt sein“.
Insbesondere bei einer Geschlechtsumwandlung sei ein gutes Zusammenwirken von Gynäkologen, Urologen, Hor- monspezialisten, Neurologen, Chirurgen und Therapeuten, aber auch mit Ämtern, Krankenkassen, Behörden und Juristen essentiell. Im Frühjahr 2017 hat Schröder einen Workshop bei pro familia mit bundesweit renommierten Expertinnen organisiert. Bei der zweitägigen Fachtagung tauschten sich Ärzte, Psychotherapeutinnen und Therapeuten sowie Beraterinnen und Berater interdisziplinär aus. Der Bedarf an qualifizierten Fachleuten sei groß. Schröder will zwar nicht von einem Transgender-Trend sprechen. Aber „in den letzten vier bis fünf Jahren hat die Zahl der Beratungen zugenommen“, beobachtete die Expertin. Möglicherweise lief diese Entwicklung parallel mit dem Kampf um die „Ehe für alle“ und die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt. Dr. Heidrun Riehl-Halen
Schwierige Begrifflichkeit
Von A wie Agender (geschlechtsneutral) bis Z wie Zwitter (doppelgeschlechtliches Individuum) erscheint die Begriffsliste sexueller Identitäten fast unendlich. Selbst die gebräuchlichsten umfassen über 50 Bezeichnungen. Einige ausgewählte seien hier erklärt: Transgender-Personen identifizieren sich nicht mit dem bei Geburt erhaltenen Geschlecht, wollen aber nicht unbedingt körperliche Veränderungen (durch Operationen und/oder Hormone). Im Unterschied dazu streben Transsexuelle Menschen diese Veränderung an oder haben bereits eine Geschlechtsangleichung (Transition) unternommen. Cross-Dresser verkleiden sich gelegentlich aus Spaß. Drag Queens/Drag Kings wollen mit ihrer Verkleidung dagegen ein Statement abgeben. Inter- sex(uelle) sind Menschen, die sowohl männliche als auch weibliche Körpermerkmale haben. Im Unterschied dazu fühlen sich bisexuelle Persönlichkeiten zu männlichen und weiblichen Partnern hingezogen. Der Überbegriff Queer steht für alle sexuellen Orientierungen und Identitäten, die von der heterosexuellen Norm abweichen. (hrh)