Digitalisierung bedroht
geistige Autonomie

Die Digitalisierung ist weltumspannend und Grundlage für umfangreiche Vernetzung - ihre Gefahren stehen weniger im Vordergrund. Symbolfoto: pixabay

Über „Digitalisierung, mentale Autonomie und Bewusstseinskultur“ sprach beim jüngsten DGPPN-Kongress Ende November Prof. Thomas Metzinger. Der Mainzer Philosophieprofessor ist Experte für Angewandte Ethik, z.B. der Neurotechnologie, der virtuellen Realität und der Künstlichen Intelligenz und hatte den Begriff Bewusstseinskultur selbst vor rund 25 Jahren eingeführt – als Ausdruck dafür, dass man eine ethische Einstellung zu den eigenen geistigen Prozessen hat und wertvolle geistige Zustände systematisch kultiviert. 

Düster klangen die Auswirkungen von Digitalisierung auf geistige Gesundheit, die er aufzählte: Von Suizidgefahr durch Cybermobbing, Auswirkung von Computernutzung auf die Hirnentwicklung von Vorschulkindern bis zur Vervierfachung von Schönheits-Ops und Filteranwendung zwecks besserer Internetpräsentation. Mehr als 50 Prozent der US-Schüler könnten Werbung nicht mehr von echten Nachrichten unterscheiden. Fake News würden sich sechsmal schneller verbreiten als echte Nachrichten. „Wut verbreitet sich am schnellsten.“ Social Media verstärke Misstrauen und Verfolgungswahn. Es handele sich um eine Polarisierung aufbauende Technologie. „Es geht um die  Grundlagen unseres demokratischen Verständnisses“, warnte er. 

Andere Gespräche, wenn ein – ausgeschaltetes! – Handy auf dem Tisch liegt

Es fängt laut Metzinger mit leichten Veränderungen an. Laut einer Studie verliefen Gespräche schon anders, wenn ein ausgeschaltetes! Handy auf dem Tisch liegt: emotionale Nähe und Gesprächstiefe waren geringer, persönlich relevante Themen wurden von Versuchspersonen weniger stark angesprochen. Social Media Nutzung reduziere Ehrlichkeit und Bescheidenheit, erhöhe Neurotizismus. 

Dem allen stellte Metzinger den Komplex geistige Autonomie, die Fähigkeit  zur geistigen Selbstbestimmung, gegenüber. Über diese verfügten Menschen während 2/3 ihrer bewussten Lebenszeit nicht. Optimieren lasse sich diese durch Achtsamkeitsmeditation, so Metzinger, der von säkularisierter Spiritualität spricht. 

Digitale Souveränität gebe es aktuell nicht, führte er weiter aus und verwies auf privatwirtschaftliche US-Akteure, die die Social Media-Infrastruktur für öffentlichen Diskurs in weniger als zwölf Stunden abschalten könnten. Aufmerksamkeit sei die neue Währung in einer Zeit unbegrenzten Zugangs zu Information und Unterhaltung („Ökonomie der Aufmerksamkeit“). Aber wer kontrolliere die menschliche Aufmerksamkeit, das menschliche Gehirn oder ein US-Konzern? 

„KI-basierte Zerstörung geistiger Autonomie”

Angesichts von Algorithmen, die die Vulnerabilitäten von Menschen entdecken und für kleine Dopaminausschüttungen sorgen und so die  Aufmerksamkeitsgewinnung optimieren würden, wie es Metzinger beschreibt. Er konstatiert eine „KI-basierte Zerstörung geistiger Autonomie“. Ziel: Dass die Menschen nicht mehr vom Bildschirm wegkommen. Solche Geschäftsmodelle seien „nicht durch Ethikrichtlinien oder weiche europäische Regelung“ zu kontrollieren. Metzingers  These: „Wir brauchen mehr als Technologiesouveränität“, und zwar mentale Autonomie. Unser eigentliches Problem sei nicht Kapitalismus oder Klimawandel, sondern die Struktur unseres eigenen Geistes, „die relevante funktionale Tiefenstruktur des Gehirns“ müsse besser verstanden und geändert werden. Ohne diese Erkenntnisziele sei Kritik z.B. an Umweltzerstörung „reine Folklore“. 

„Mentale Autonomie ist ein abstrakter Marker für geistige Gesundheit und eine der zentralen fiktionalen Eigenschaften, um das ethische Niveau unserer Gesellschaften zu erhöhen. Die digitale Transformation“, schloss Metzinger, brauche einen „übergreifenden normativen Kontext“. Ein Teil davon könne die Entwicklung einer Bewusstseinskultur sein.  Anke Hinrichs

(Auszug eines Kongressberichts aus der EPPENDORFER Printausgabe 1/22)

Gefahren der Phänotypisierung

Eine Smartphone-App, die mittels GPS-Daten ermittelt, dass sich ein Suchtpatient seiner Stammkneipe nähert, und sofort die zuständige Klinikerin informiert. So kann man intervenieren, bevor der Rückfall eingetreten ist und nicht erst Wochen später mit einem längeren Klinikaufenthalt …

„Mit dieser verheißungsvollen Einleitung weist ein Autorenteam von Psychiatern und Informatikern aus New York und von der Harvard Universität in Boston in einem kürzlich erschienenen Beitrag in World Psychiatry auf den Quantensprung hin, der sich gerade in der psychiatrischen Behandlung vollzieht“, schreiben Prof. Tilman Steinert und Samuel Thoma in ihrem in der „Psychiatrischen Praxis“ 2/2021 erschienenen Beitrag „Digitale Phänotypisierung: Segen oder Fluch?“ (https://eref.thieme.de/ejournals/1439-0876_2021_02#/10.1055-a-1347-3349). 

Bei der Phänotypisierung werden drei Sorten von Daten verwendet. Bewegungs-und Schlafdaten, z.B., Selbsteinschätzungen, und Metadaten wie Geschwindigkeit des Scrollens und Klickens. Bei Patienten mit Schizophrenie konnte mit einer Analyse Smartphone-generierter Daten gezeigt werden, dass definierte „Anomalien“ der Profile in den zwei Wochen vor einem Rückfall signifikant zunahmen. Craving bei Opiatabhängigen konnte in einem Zeitraum von 90 Minuten in der Zukunft vorhergesagt werden. Ein Segen für Primärprävention und Frühintervention? Auf jeden Fall „ein Segen“ für Autoritäre Staaten. „Die Gefahr liegt also letztlich weniger in der Digitalisierung der Psychiatrie als in der Psychiatrisierung des digitalen und schließlich des öffentlichen Raums“, warnen die Autoren. (hin)