Es scheint kein Zufall zu sein, dass zwei Tage vor dem zugesagten Abgabetermin der fast fertige Text über das neue Buch von Daniel Schreiber im Computer-Orkus verschwand und trotz ca. einstündiger mitternächtlicher und verzweifelter Wiederherstellungsversuche nicht mehr auffindbar war. Weg. Einfach weg. Eigentlich schien alles ganz sicher. Nur noch ein paar Sätzchen. Alles gut. Nein, nichts ist gut. Von vorne anfangen. Noch mal neu lesen, neu denken, neu verstehen, neu schreiben. So, genau so, verhält es sich mit dem ZUHAUSE.
Das Zuhause ist nichts, dessen wir uns sicher sein können. Kein Platz, keine Adresse, kein Ort, kein Gefühl ist so verlässlich, dass wir uns damit oder gar darin in einem guten Sinne wirklich sicher fühlen könnten. Aber was genau bedeutet denn dieses Wort ZUHAUSE, das mit dem Beginn des Lesens dieses Textes so leicht und einleuchtend, aber mit jeder gelesenen Seite schwieriger und undefinierbarer erschien? Daniel Schreiber drückt es – noch sehr zu Beginn seines Buches – so aus: „…In jenen klaren, blütenschweren Frühlingstagen in London, als plötzlich nur noch so wenig schien, wie es vorher gewesen war, spürte ich mit einem Mal die Gewissheit, dass die Zeit für eine Entscheidung gekommen war. Die Entscheidung für ein ZUHAUSE. Die Entscheidung für eine SUCHE“.
Zuhause ist kein Zustand. Zuhause ist eine Suche, ist ein Prozess, ist eine ständige Bewegung des Austarierens zwischen der „heimhaften“ und der „weghaften“ Seite in uns, wie die Philosophin Karin Joisten es formuliert, die Schreiber unter vielen anderen Autoren in seinem Buch zu Wort kommen lässt. Aber wovon wollen wir weg? So könnte man fragen, wo es doch das „Heimhafte“ ist, was uns vertraut ist und in dem wir uns sicher fühlen. Hier bietet am ehesten Freuds Essay über „das Unheimliche“ Aufschluss, auf den Schreiber sich in den folgenden Ausführungen bezieht: „Es ist ein Irrtum, die Welt, aus der wir kommen, zu verklären, ein Irrtum, das Heimische als eine Sphäre zu verstehen, die ohne grundsätzliche Komplikationen auskommt. Für viele von uns ist es der schwierigste Ort, den wir in unserem Leben kennen, der Ort, an dem wir die meisten Konflikte austragen … der Ort, in anderen Worten, an dem wir uns am allerfremdesten fühlen“ (S. 55). Das Gefühl des Heimischen, des Vertrauten, des Gewussten birgt also immer auch das Gefühl der Fremdheit, des „Unheimlichen“, dem wir zu entrinnen versuchen.
„Den meisten Menschen ist die vertraute Hölle lieber als das unbekannte Paradies“. Diesen Satz geben Therapeuten gern ihren Patienten auf den Weg, die fragen, woher es denn bloß komme, dass sie in ihrem heutigen Leben immer und immer wieder den alten – oft schrecklichen – Mustern folgen anstatt zu neuen Ufern aufzubrechen und die „alten Dämonen“ hinter sich zu lassen. Das Vertraute ist oft das Schreckliche UND das Sichere zugleich. Dem zu entrinnen und sich dem wirklich EIGENEN anzunähern, erfordert Mut und die Bereitschaft, „sich der menschlichen Erfahrung, fremden Lebensentwürfen und dem unergründlichen Geheimnis der Welt von allen möglichen Seiten her zu öffnen, so schwer uns das auch fällt … Die meisten von uns verschließen sich, weil sie alles Leiden fürchten, und erfahren deshalb kaum etwas (Neues) in ihrem Leben“ (V. Flusser: Von der Freiheit des Migranten).
Ja aber, so könnte man jetzt fragen, was braucht es denn, was brauchen WIR, um alte Sicherheiten hinter uns zu lassen, damit wir neue gewinnen können, um in und mit uns selbst ein Gefühl von „ZUHAUSE“ zu spüren? Was brauchen wir, um uns zu verabschieden von dem Idealbild des idealen ZUHAUSES, das es nicht gibt? Was brauchen wir, um uns im Unsicheren sicher zu fühlen und um zu verstehen, dass „Zuhause“ kein Ziel, sondern ein Weg ist? Daniel Schreiber sieht die Lösung dieser Fragen in der Einsicht und dem Bemühen jedes einzelnen, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und „im Rahmen der eigenen Möglichkeiten etwas daraus zu machen … Wir können uns zu Hause fühlen, jede und jeder von uns“. Und dies wird uns umso eher gelingen als wir bereit sind, die Grenzen unserer Möglichkeiten anzuerkennen aber auch die Spielräume wahrzunehmen und zu nutzen, die sich uns im Rahmen dieser Grenzen bieten. „Vielleicht geht es auch bei der Suche nach einem Zuhause vor allem darum: dass man es gut genug macht und dass das Zuhause, das man für sich findet, gut genug für das eigene Leben ist“. Martina de Ridder
Daniel Schreiber: „Zuhause“, Hanser-Verlag, Berlin: 2017, 144 S., ISBN 978-3-446-25474-9, 18 Euro.