Kunst am Abgrund

Auch Flucht ist ein Schwerpunktthema der documenta 14. Hier im Bild: die Röhreninstallation „When We Were Exhaling Images“ von Hiwa K.. Der aus dem Irak stammende und in Berlin lebende Künstler hat gemeinsam mit Kunststudierenden Kanalrohre gestaltet, die an die zeitweise Behausung von Flüchtlingen erinnern sollen. Denn wie der Künstler erzählt, haben sich Menschen auf ihrer Flucht im Hafen von Patras eine längere Zeit lang in solchen Röhren häuslich einrichten müssen. Foto: Franckenstein

 
Die Kasseler documenta bietet viel zeitgenössische Kunst – und menschlich Bewegendes

Eine gewisse Theorielastigkeit wird der diesjährigen von dem polnischen Kurator Adam Szymczyk kuratierten Kunstschau documenta 14 in Kassel von den Kritikern vorgeworfen. Wer aufmerksam durch die zahlreichen Kunststätten geht, findet sich aber auch mit bewegenden Schicksalen konfrontiert, die in Vitrinen und Filmsälen vorgestellt werden. Und die teils Blicke in Abgründe erlauben – darein, was Menschen einander antun können. Eine Auswahl ganz besonderer documenta-Tipps . . .

In der 2015 eröffneten Grimmwelt an der Kasseler Weinbergstraße zum Beispiel, in der laut Selbstbeschreibung „die Brüder Grimm und ihre Märchen in der Jetztzeit ankommen“, zeigt die documenta in einem Ausstellungsraum Künstlerpräsentationen, die vom Geschichtenerzählen handeln. Da ist die Geschichte der Malerin, Illustratorin und Kinderbuchautorin Tom Seidmann-Freud, die als Martha-Gertrud Freud in eine gutbürgerliche jüdische Familie im Wien des 19. Jahrhunderts geboren wurde. Ihre Mutter Marie („Mitzi“) war die Schwester von Sigmund Freud, dem „Vater der Psychoanalyse“. Mit Ende 15, nachdem die Familie von Wien nach Berlin gezogen war, änderte Martha-Gertrud ihren Namen in „Tom“ und begann, gelegentlich auch Männerbekleidung zu tragen. Ab 1911 studierte Tom Freud in London Kunst, schrieb und illustrierte bereits während ihrer Studienzeit zwei Bücher, „Wölkchen“ und „Der Garten des Leidens“, und experimentierte nach ihrer Rückkehr nach Berlin mit Grafikdesign, Zeichnung, dekorativer Malerei und den Drucktechniken Holzschnitt, Lithografie und Radierung. Mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Yankel Seidmann, gründete sie einen Verlag für Kinderbücher, Peregrin (von lat. peregrinus, was so viel wie „Fremder“ oder „aus einem anderen Land“ bedeutet – ein Titel, der im Römischen Reich Menschen bezeichnete, die keine Bürger Roms waren). In dem Verlag, der sich auch mit religiösen Themen speziell für ostjüdische Zuwanderer befasste, erschien 1923 auch Tom Seidmann-Freuds Bilderbuch „Die Fischreise“, aus dem in der Grimmwelt Bilder zu sehen sind. 1922 war Seidmann-Freuds jüngerer Bruder Theodor, dem sie sehr nahe stand, in einem Berliner See ertrunken. „Die Fischreise“ erzählt die Geschichte eines Jungen namens „Peregrin“, der einschläft und davon träumt, von einem Fisch auf eine Unterwasserreise zu einem utopischen Land mitgenommen zu werden, wo alle Menschen friedlich zusammenleben und kein Kind arm oder hungrig ist. Das Buch war Theodor gewidmet. Zu dieser Zeit hatte sich der künstlerische Stil Tom Seidmann-Freuds bereits verändert. Der ornamental- dekorative Jugendstil wich zugunsten einer gerade entstehenden Neuen Objektivität, die sich durch leichte, gerade Linien und delikate, beinahe transparente, jedoch leuchtende Farben auszeichnete. Während der Weltwirt- schaftskrise im Herbst 1929 ging der Verlag bankrott, Yankel Seidmann nahm sich das Leben. Tom Seidmann-Freud erkrankte an einer schweren Depression, von der sie sich nicht mehr erholte. Am 7. Februar 1930 nahm sie sich mit Schlaftabletten das Leben.

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Die documenta in der Grimmwelt zeigt in einer benachbarten Vitrine auch Werke und die Geschichte des polnisch-jüdischen Autors und Künstlers Bruno Schulz. Er wurde 1892 im galizischen Drohobytsch geboren, das nach der ersten polnischen Teilung seinerzeit zu dem österreichischen Kronland Königreich Galizien und Lodomerien gehörte und auch in der Folge zum Spielball der Mächte wurde. 1919 kam die Stadt zu Polen, bis sie 1939 von der Roten Armee besetzt wurde. 1941 nahm die deutsche Wehrmacht nach dem Überfall auf die Sowjetunion die Stadt ein. Wie viele Galizier lebte Schulz mit und zwischen den Kulturen. Aus diesem Dazwischen schuf er eine einzigartige Literatur und Bildkunst abseits und in spannungsvoller Abwehr aller politischen Mächte der Zeit. „Überschäumende apokalyptische Fantasie“ wurde seinen Werken bescheinigt. In Kreisen der polnischen Avantgarde wurde er gefeiert. Nach dem Einmarsch der Nazis wurde Schulz, der in Drohobytsch als Werklehrer an Schulen arbeitete, ins jüdische Ghetto gezwungen. Seine künstlerischen Fähigkeiten erregten die Aufmerksamkeit des SS-Obersturmbannführers Felix Landau, der die Organisation der jüdischen Zwangs- arbeiter in der Region überwachte. Landau ließ zunächst Gebäude in der Stadt grafisch von Schulz gestalten und befahl ihm schließlich, in der von ihm requirierten Villa in Drohobytsch, in der er mit seiner Geliebten, einer SS-Sekretärin, lebte, die Wände der Zimmer der Kinder, die er mit seiner Ehefrau hatte, mit Märchenszenen auszugestalten. Dabei soll Landau Wert darauf gelegt haben, dass Schulz in die Szenen auch Ähnlichkeiten mit Landaus Haus und Landau selbst einbaute. Am 19. November 1942, kurz vor seiner geplanten Flucht aus dem Ghetto, wurde Schulz auf offener Straße von Landaus SS-Kollegen Karl Günther erschossen, vermutlich aus Unmut über Schulz’ Gönner, der zuvor Günthers Leibzahnarzt erschossen hatte. Günther soll nach der Tat zu Landau gesagt haben: „Du hast meinen Juden getötet – und ich deinen!“ Bei Vorarbeiten für einen Film über Schulz entdeckte der deutsche Filmemacher Benjamin Geissler in der ehemaligen Villa Landau in Drohobytsch in einem als Vorratskammer genutzten Raum Überreste von Schulz’ Fresken. Weitere Wandfragmente zeigten sich unter diversen Farbschichten. Fünf davon wurden mit Genehmigung der Hausbewohner nach Yad Vashem, das Internationale Institut für Holocaust-Forschung in Israel, verbracht. Die fünf Fresken, die in Kassel zu sehen sind, sind eine Leihgabe des Museums im heute ukrainischen Drohobytsch.

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Und dann gibt’s im Rahmen der documenta noch die Filme in der Tofu-Fabrik – aber das ist eine ganz andere Geschichte. Ausgerechnet in der ehemaligen Tofu-Fabrik an der Wolfhager Straße, die mit ihrer fleischlosen Ware so erfolgreich war, dass inzwischen woanders an größerer Stätte produziert wird, sind parallel zwei Filmsequenzen über den Japaner Issei Sagawa zu sehen, der sich als „Kannibale“ einen Namen gemacht und in Japan mit seinem reuelosen „coolen“ Verhalten Kultstatus erlangt hat. Sagawa hatte in Paris Literatur studiert und als Doktorand 1981 eine niederländische Kommilitonin mit der Bitte in seine Wohnung gelockt, für eine Tonbandaufnahme ein deutsches Gedicht vorzutragen. Dabei erschoss er sie, in der Absicht, Teile ihres Körpers zu verzehren. Er wurde gefasst, als er nachts Teile der Leiche im Bois de Boulogne vergraben wollte, und von französischen Gutachtern für schuldunfähig erklärt. Sein Vater, ein Industrieller, bewirkte mithilfe von Anwälten, dass Sagawa im Sinne einer für ihn geeig- neteren Behandlung innerhalb der japanischen Kultur aus dem Maßregelvollzug nach vier Jahren nach Japan abgeschoben wurde. Die japanischen Psychiater kamen zu dem Schluss, dass Sagawa die französischen Kollegen getäuscht habe, lediglich an einer Persönlichkeitsstörung leide, somit schuld- fähig sei, eine erneute Verurteilung aber nicht möglich und er somit freizulassen sei. In der Kasseler Tofu-Fabrik präsentieren die Schweizer/britischen Dokumentarfilmer Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor zu diesem Thema eine zweiteilige Filmarbeit: Commensal – Tischgenosse. In ausschnitthaften Großaufnahmen kommentiert der heute 68-jährige Sagawa, zeitweise liegend, im Beisein seines Bruders das Geschehen in Paris und gibt Einblicke in intime Szenen eines Manga-Hefts, das er dazu gezeichnet hat. In einem Nebenraum sind, wie ein Kommentar, Filmsequenzen aus der Kindheit der Sagawa-Brüder zu sehen, die sichtlich gutsituiert aufwuchsen, stets wie Zwillinge gekleidet im Zoo, auf dem Rummelplatz oder am Meer zu sehen sind und routiniert wie Schauspieler auf die Kamera zulaufen. Mittlerweile ist Sagawa mit „seinem“ Thema in Talkshows aufgetreten und hat Bücher geschrieben, die sich erfolgreich verkaufen. Er schreibt für eine japanische Zeitung und trat in einem japanischen Erotikfilm auf. Nach eigener Aussage mag Sagawa keine europäischen Frauen mehr, sie seien ihm zu arrogant und unnahbar. Zudem habe er bei seiner Tat lächeln müssen und sich bis kurz vor dem Mord mit dem nichts ahnenden Opfer unterhalten. Kein Zweifel, Sagawas Tat polarisiert und fasziniert. Sogar die Rolling Stones haben sich 1983 davon für den Song „Too Much Blood“ für ihr Album „Undercover“ inspirieren lassen: „A friend of mine was this Japanese … Truth ist stranger than fiction“.                               Frauke Franckenstein

documenta 14, Tageskarte: 22 Euro, ermäßigt: 15 Euro. Weitere Informationen unter www.documenta.de