„Junge Menschen brauchen länger um erwachsen zu werden“ – Identitätsentwicklung schiebt sich immer weiter nach hinten
„Reife-Prüfungen. Von Krisen und Bewältigungsstrategien junger Erwachsener“ war eine Gemeinschaftsveranstaltung der Ärztekammer und der Psychotherapeutenkammer Hamburg überschrieben, die aus Anlass des 4. Tages der seelischen Gesundheit stattfand. Themen der beiden Hauptvorträge waren das Suchtverhalten in der Adoleszenz und die verzögerte Identitätsbildung junger Erwachsener.
HAMBURG (frg). Als „Emerging Adulthood“ bezeichnen Entwicklungspsychologen mittlerweile die Schwelle zum Erwachsenwerden, also das Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke, Prof. für Medizinische Psychologie an der Universität Mainz und Psychoanalytikerin, hat sich in vielen Studien mit dieser Lebensphase beschäftigt. Ihr Fazit: Junge Menschen brauchen heute länger, um erwachsen zu werden, und auch die Identitätsentwicklung hat sich deutlich verlängert. In Hamburg sprach sie über die Entwicklungs- aufgaben und -risiken zwischen 20 und 30 und deren klinische Relevanz. „Emerging Adulthood“ sei eine neue Phase, die seit 2000 in allen Industriestaaten existiere, so Seiffge-Krenke. Typisch für die Altersgruppe der 18 bis 30-Jährigen sei die verlängerte Identitätsentwicklung, die verbunden sei mit einer Instabilität im beruflichen und partnerschaftlichen Bereich, einem enormen Selbstfokus und dem Gefühl des „Dazwischenhängen“. Ob Ablösung vom Elternhaus, Eingehen einer festen Partnerschaft oder Festlegung eines Berufsziels – alles dauert heute länger. Diese jungen Erwachsenen wollten sich nicht festlegen, probierten vieles aus – kämen aber in der Identitätsentwicklung nicht voran. Dies läge auch an den zu vielen Wahlmöglichkeiten im Beruf. „Ich möchte herausfinden, was ich wirklich will“ – diese Aussage höre man am häufigsten in Gesprächen. Wobei die jungen Erwachsenen durchaus darunter leiden können, wenn sie sich weit entfernt von den von ihnen anvisierten klassischen Zielen wie stabile Partnerschaft oder berufliche Etablierung erleben: „Die Sensiblen, die das merken, kommen in die Therapie“.
Ein weiteres klinisch relevantes Merkmal sei die Abnahme im Commitment: Neben einer enormen Mobilität und Fluktuation im beruflichen Bereich mit entsprechenden Umzügen gebe es auch eine fehlende Verpflichtung in Partnerschaften, viele Trennungen und Zweckbeziehungen. Die Eltern spielen natürlich auch eine große Rolle. Die meisten jungen Menschen in dieser Periode stünden in einem starken finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern, auch bei beginnender Berufstätigkeit sei meist eine Unterstützung noch erforderlich. Hier gebe die Gefahr, dass Eltern zu viel unterstützten, einen zu großen Einfluss auf sie ausübten und ihre Sprösslinge zu Nesthockern machten. Negativ seien auch Versuche, die Kinder stärker an sich zu binden und sie in bestimmte Bahnen zu lenken. „Eltern können die Identitätsentwicklung ihrer Kinder behindern durch intrusives Verhalten (Kontrolle, Hinterherschnüffeln), durch Separationsangst und zu viel Unterstützung“, so Seiffge-Krenke. „Es ist dieser Zeit geschuldet, dass junge Menschen stark verunsichert sind, für was sie sich entscheiden müssen“, sagte die Psychoanalytikerin zum Abschluss ihres Referates. Die Zukunftsangst bei Jugendlichen sei in allen Ländern hoch. Dies gehe mit einem Anstieg psychischer Störungen einher, worauf sich die Psychiatrie einstellen müsse.
Dr. med. Peter Strate, Chefarzt der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen, Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll, hatte in seinem Vortrag über „Suchtverhalten und andere Krisen in der Adoleszenz“ immerhin eine positive Botschaft parat: „Die Jugend scheint besser zu sein als ihr Ruf“. Es sei ein starker Rückgang des Tabakkonsums bei Jugendlichen zu beobachten. Auch das Rauschtrinken gehe zurück, der Cannabiskonsum bei den unter 35-Jährigen steige jedoch. Die Zeit der Pubertät sei nicht ungefährlich, so Strate. Nach der Isle of wight-Studie hätten 40 Prozent der 14- bis 15-Jährigen über Gefühle des Unglücklichseins berichtet, 20 Prozent über Selbstwertkrisen, sieben Prozent über Suizidideen. Nach einer Bremer Jugendstudie litten 19 Prozent aller Jugendlichen unter einer Angststörung, auch Essstörungen gefährdeten die Gesundheit. Viele sähen Alkohol als Entlastung, wobei es einen großen Einfluss auf die Suchtentwicklung habe, ob die Eltern selber konsumieren. Riskantes Verhalten sei bei der Jugend ausgeprägter als bei Erwachsenen – übrigens wie im Tierreich, legte Strate dar. Aber: Gefahren zu erkennen könne gelernt werden. Jugendliche hätten Sehnsüchte nach Reizen, nach Aufregung. Und Gruppen spielten da eine große Rolle, sie könnten leiten und verleiten, in ihnen steige das Risikoverhalten.