Fallada: Chronik eines Leidens

Was für ein Leben: „In der Lebensspanne von 53 Jahren befand sich Hans Fallada vier Mal im Gefängnis, drei Mal in psychiatrischen Kliniken mit unterschiedlicher Dauer, 23 Mal in Heilstätten für Nerven- und Gemütskranke, in Sanatorien – und schrieb fast 30 Bücher“, so Klaus Jürgen Neumärker. Der Psychiater hat eine umfassende und differenzierte Krankengeschichte von Hans Fallada alias Rudolf Ditzen verfasst, der oft als Trinker bzw. Morphinabhängiger geschildert wurde, den Depressionen und Nervenzusammenbrüche quälten. Neumärker wertete nun nicht nur Bücher, Archivalien und Briefe aus, sondern sichtete erstmals die Krankenakten des West-Sanatoriums und der Charité Berlin sowie der Kuranstalten Berlin-Westend. So ist ein Bild des anderen Fallada entstanden, der krank und süchtig war – und in den Phasen dazwischen extrem leistungsfähig.

Fallada hat mit seinen zahlreichen Werken, allen voran mit „Kleiner Mann was nun?“, schon zu Lebzeiten Weltruhm erreicht. In nur 53 Jahren schrieb er 30 Romane, die später vielfach auch als Theaterstücke inszeniert wurden. Das Leben von Fallada, der mit bürgerlichem Namen Rudolf Ditzen hieß, war von seinem Schaffensdrang geprägt, aber auch von seinen Leiden. Seine Krankheitsphasen waren der Ansatzpunkt für die Recherchen von Prof. Klaus Neumärker, langjähriger Arzt und später Direktor der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité. Während der Arbeit an dieser traditionsreichen Klinik entwickelte Neumärker schon als junger Assistenzarzt ein Gespür dafür, dass Patientenakten ein großer Schatz sind, die zahlreiche interessante Informationen enthalten. Falladas Akte war deshalb bald mit einem Vermerk vor der Vernichtung sichergestellt, auch über die 20-jährige Aufbewahrungspflicht hinaus. Neumärker recherchierte zusätzlich in Archiven und las alle Biografien über den bekannten Autor. Dabei fielen ihm vor allem aus medizinischer Sicht Unstimmigkeiten auf. Jenseits der Fakten nutzt jeder Biograph einen gewissen Spielraum für Vermutungen und persönliche Einschätzungen. Die portraitierte Person wird aus Sicht des Biographen lebendig und damit auch ein Stück weit von der Sicht des Autors geformt. Fallada wurde dabei mitunter in erster Linie als Trinker geschildert, der im manischen Wahn seine Bücher schrieb. Diese Betrachtung ist aber nicht korrekt und sehr undifferenziert, wie Neumärker belegte. Nach seiner Emeritierung 2006 widmete sich der Psychiatrieprofessor deshalb gewissenhaft dem Mammutprojekt Fallada. Dabei war es nicht in erster Linie Neumärkers Ziel, eine weitere Biografie über den begabten Erzähler zu schreiben. Vielmehr wollte der Psychiater die aus Krankenakten ersichtlichen Wahrheiten ans Licht bringen. Akribisch wertete er Rudolf Ditzens Patientendaten aus und wendete gegenüber dem Verstorbenen die gleiche Vorgehensweise an, wie er es von seinen Visiten am lebenden Patienten gewöhnt war: genaue Beobachtung und exakte Dokumentation, ohne zu bewerten. Puzzlestück für Puzzlestück setzte er Krankenblätter, Gutachten, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen aneinander. Mit fachmännischer Expertise analysierte er das Ärztevokabular aus jener Zeit, fügte historische Kenntnisse der Medizin ein und erläuterte die Diagnosen aus moderner Sicht. Dass Fallada diverse Suchtprobleme hatte, wird auch in Neumärkers Kompendium belegt. Aber die Zusammenhänge lesen sich teilweise doch sehr anders als bei anderen Biographen.

Seit frühester Jugend heftige Nikotinabhängigkeit

Im Vordergrund sieht Neumärker die schon seit frühester Jugend bestehende heftige Nikotinabhängigkeit. Wiewohl Ditzen auf kaum einem Foto ohne Zigarette zu sehen ist, hat dieser Suchtaspekt in der Literatur über Fallada eher wenig Erwähnung gefunden. Vielleicht, weil sich das beliebte Bild von Genie und Wahnsinn mit Tabak nicht so gut inszenieren lässt wie mit Schnaps und Drogen. Dass die durch Alkohol oder Morphium hervorgerufenen Rauschzustände produktiv waren, widerlegt Neumärker anhand seiner akkuraten Analyse der Akten und Tagebucheinträge. Vielmehr waren die Nervenzusammenbrüche, Depressionen oder Alkoholexzesse stets ein Einbruch in das von Schaffenskraft überschäumende Leben des berühmten Schriftstellers. Neumärker reduziert Fallada nicht auf seine Krankheiten sondern zeigt, dass der Schriftsteller in erster Linie ein kreativer und kluger Kopf war, der seine Romane in kurzer Zeit zu schreiben pflegte. Mittlerweile ist schon vielfach belegt worden, dass ein akuter psychiatrischer Krankheitsschub nie kreativ ist sondern voller Leid, Schmerz und seelischer Verarmung. Natürlich können Menschen zwischen diesen Einbrüchen aber schöpferisch und leistungsfähig sein. Jemand, der sich beide Beine gebrochen hat, kann schließlich im Regelfall auch wieder laufen, nachdem die Knochen verheilt sind. Insgesamt zeichnet Neumärker ein differenziertes Bild von Falladas Leben, das von viel Leid geprägt war. Von seinen vier Kindern starben zwei sehr früh, und als Schriftsteller war er trotz oder wegen seiner Berühmtheit auch vielen Anfeindungen ausgesetzt. In Carwitz, wo jetzt das Fallada-Museum noch an den Künstler erinnert, ließen die Dorfbewohner ihn deutlich spüren, dass der Künstler nicht wirklich zu ihnen gehörte. Weitere Wunden riss der Nationalsozialismus. Dieses Kapitel hat der Autor Neumärker allerdings nicht detailliert aufgeblättert, weil es über den Schwerpunkt der Krankheitsanalyse hinausgegangen wäre. Auch so hat das Buch mit über 400 Seiten schon eine beachtliche Länge erreicht, die als schnelle Feierabendlektüre sicher nicht geeignet ist. Dafür hat Neumärker ein Stück Psychiatriegeschichte geschrieben. Eindrucksvoll belegt der Psychiater, wie sich Behandlungsformen und Bezeichnungen über die Jahre geändert haben und dass ein um 1900 gebrauchtes Wort wie „Psychopath“ nicht unreflektiert in das aktuelle Jahrhundert übertragen werden darf. Vor allem aber macht der erfahrene Arzt deutlich, dass die psychiatrische Kunst, eine Persönlichkeit in ihrem Sosein zu erfassen und wertzuschätzen, über alle Jahre das höchste Gut der Medizin geblieben ist. Als der junge Fallada nach einem geplanten Doppelsuizid zum überlebenden Mörder wird, zeigt sich im damaligen Gutachten, dass der Arzt die Qual des jungen Mannes gut erfasst hat. Der Kampf des Gutachters um die Rehabilitierung des jungen Künstlers ist laut Neumärker beispielhaft für wertschätzende, ärztliche Tätigkeit und ließe sich beliebig in moderne Zeiten übertragen. Insgesamt ist ein umfassendes Werk entstanden, das Fallada-Fans, aber vor allem Psychiatern sehr ans Herz zu legen ist. Die vielen Daten und exakten Zitate sind nicht leicht zu lesen, es handelt sich ganz offenkundig nicht um einen Roman. Andererseits ermöglichen die Zahlen und Protokolle das erhebende Gefühl, beim Aufblättern der Akten quasi anwesend zu sein und die Möglichkeiten, aber auch Grenzen solcher historischen Entdeckungen zu erleben.

Heutige Diagnose Persönlichkeitsstörung?

Neumärker zeigt, dass Fallada nach heutigem Verständnis wohl am ehesten eine Persönlichkeitsstörung attestiert werden würde. Wie sich diese charakteristische Struktur entwickelt hat, ist nicht Thema des Buchs. Wichtig ist Neumärker vielmehr, dass auf der Basis einer solchen Persönlichkeit und im Zusammenwirken mit den mitunter schwierigen Lebensumständen viele Entwicklungen einer gewissen Logik folgen. Fallada war dabei keinesfalls ein ausschließlich von Rausch und Sucht getriebener Abhängiger. Er konnte sich selbst und seine labile Psyche meist gut einschätzen, weshalb er sich stets freiwillig in Behandlung begab und konsequent darauf hinwirkte, bald wieder arbeitsfähig zu sein. Mit dem Ziel, schnell wieder arbeitsfähig zu sein, verlor er aber auch eine tiefgreifende Behandlung seiner Persönlichkeit aus dem Blick oder ging ihr sogar bewusst aus dem Weg. Ärzte verabreichten ihm Beruhigungs- und Schlafmittel, um seine vordergründigen Unruhezustände zu bändigen, ohne dass es zu einer langfristigen therapeutischen Behandlung gekommen wäre. Stattdessen müssen die Ärzte immer wieder über Medikamente entscheiden, ohne über das Ausmaß des Drogenkonsums ihres Patienten vollständig informiert zu sein. Fallada und auch seine zweite Frau hatten offensichtlich jenseits der Heilanstalten diverse Quellen, über die sie u.a. an Morphium gelangten. Die Kontakte zu Ärzten und Apothekern müssen dabei ebenso hilfreich gewesen sein wie der zum Teil gute Verdienst des Schriftstellers. Neumärkers Bereitschaft, sich mit dem Patienten Fallada gewissenhaft auseinander zu setzen, hat Vorbildcharakter. Der Arzt und vor allem der Psychiater hat die Pflicht, Leiden zu lindern. Dafür muss er als erstes den Patienten in seiner Individualität erfassen. Ärzte sind keine Juristen, die Fehlverhalten beurteilen oder ahnden. Ärztliche Gutachten sind aber ein machtvoller Faktor, der Wohl und Wehe eines Lebenswegs entscheidend prägen kann. So wurde dem jungen Rudolf Ditzen unterstellt, es wäre eine manische Idee, Schriftsteller werden zu wollen, und es galt als Teil der Gesundung, dass er eine Ausbildung zum Landwirt akzeptierte. Zum Glück für alle Leser ist Fallada nicht bei der landwirtschaftlichen Tätigkeit geblieben. Klaus Neumärker macht vor, wie es gelingen kann, die schillernde Persönlichkeit eines Menschen zu erkennen und seine persönlichen Qualen auch im Kontext der jeweiligen Rahmenbedingungen zu verstehen, ohne das Verhalten zu be- oder verurteilen. Verena Liebers

Klaus-Jürgen Neumärker: „Der andere Fallada. Eine Chronik des Leidens“, 416 Seiten, 84 Abbildungen, 26,95 Euro, Steffen-Verlag, Berlin: 2014, ISBN 978-3-941683-49-5

 

Von Krise zu Krise

Rudolf Ditzen wird 1893 in Greifswald in gutbürgerlichen Verhältnissen als Sohn eines Landrichters geboren. Mit seinem Freund Hanns Dietrich von Necker beschließt er im Oktober 1911, einen als Duell getarnten Doppelsuizid zu begehen. Dabei stirbt von Necker, Ditzen überlebt schwer verletzt, wird wegen Totschlags angeklagt und in die psychiatrische Klinik in Tannenfeld eingewiesen. Wegen Schuldunfähigkeit wird die Anklage fallengelassen. Ditzen verlässt das Gymnasium ohne Abschluss. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldet er sich als Kriegsfreiwilliger, wird jedoch als „dauernd untauglich“ abgewiesen. Die Zeit von 1917 bis 1919 verbringt er aufgrund seiner Alkohol- und Morphinsucht vorwiegend in Entzugsanstalten und Privatsanatorien. In diese Zeit fallen erste, nicht von Erfolg gekrönte schriftstellerische Versuche. Er absolviert aber auch eine landwirtschaftliche Lehre und hält sich finanziell mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Haftstrafen wegen Beschaffungskriminalität (Betrug und Unterschlagung) fallen auch in diese Zeit. 1929 heiratet er Anna Issel, die er in Hamburg-Eilbek kennengelernt hat und mit der er vier Kinder zeugt. Zunächst aber zieht Ditzen allein nach Neumünster, wo er als Lokalreporter arbeitet. Anfang der 30er Jahre zieht die Familie auf Anraten Ernst Rowohlts in die Nähe Berlins. Rowohlt verschafft Fallada eine Halbtagsstelle im Verlag. 1932 kommt der Durchbruch: „Kleiner Mann – was nun?“ wird ein Bestseller und macht den Autor weltbekannt. 1933 Umzug ins mecklenburgische, wo Fallada während des Nationalsozialismus zurückgezogen lebt und wo weitere Romane entstehen, darunter „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“. Die erste Ehe wird im Juli 1944 geschieden. Weil Ditzen im Streit mit der Geschiedenen in einen Tisch schießt, kommt er in den Maßregelvollzug, wo „Der Trinker“ entsteht. Monate später, nach der Entlassung, heiratet er die ebenfalls morphinsüchtige 30 Jahre jüngere Ursula Losch. 1946 wird er wegen Alkoholkrankheit und Morphinismus in die Charité eingewiesen. Im Herbst des gleichen Jahres schreibt er innerhalb von nur vier Wochen auf Basis echter Prozessakten das aus mehr als 800 Typoskriptseiten bestehende Buch „Jeder stirbt für sich allein“ über ein Berliner Ehepaar, das auf Postkarten zum Widerstand gegen das NS-Regime aufrief und letztlich hingerichtet wurde. Fallada selbst stirbt am 5. Februar 1947, nur wenige Wochen nach der Fertigstellung des Buchs und völlig geschwächt, an Herzversagen. (hin, Quelle: Wikipedia)

(Originalveröffentlichung: März 2015)