HAMBURG. Wer kennt ihn nicht, den Pawlowschen Hund? Er ist das Beispiel einer klassischen Konditionierung. Dem russischen Physiologen Iwan Pawlow fiel auf, dass vor der Fütterung bei Hunden der Speichelfluss bereits einsetzte, wenn das Futter zwar noch nicht da, aber Herrchen oder Frauchen in der Nähe waren. Pawlow untersuchte das Phänomen genauer und ließ bei jeder Fütterung einen Glockenton erklingen. Und in der Tat: Nach relativ kurzer Zeit verknüpften die Hunde den Glockenton mit Futter und begannen schon zu sabbern, wenn sie nur die Glocke hörten. Ein äußerer Reiz, der Ton, löste also schon den Beginn des Verdauungsvorgangs, den erhöhten Speichelfluss, aus. Prof. Dr. rer. biol. hum. Manfred Schedlowski, Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie, Universitätsklinikum Essen, gehört zu jenen Forschern, die untersuchen, ob über diese klassische Konditionierung auch das menschliche Immunsystem beeinflusst werden kann.
In Versuchen an Ratten, so Schedlowski, konnte bereits eine konditionierte Immunantwort nachgewiesen werden. Die Tiere lernten, Zuckerwasser mit einem immunsuppressiven Medikament zu kombinieren. Es genügte bei ihnen schließlich ein süßer Reiz, um die Immunabwehr herunterzufahren. Eine gelernte Immunsuppression.
Für die Medizin wäre eine gelernte Immunsuppression beim Menschen natürlich hochinteressant. Wäre ein Konditionierungsprozess etwa in der Lage, den Abstoßungseffekt nach einer Herztransplantation zu beeinflussen? In einer Studie an Mäusen gab es bereits ermutigende Ergebnisse: Von den Tieren, die Zuckerwasser und nur wenig Medikamente bekamen, hatten drei von zehn Tieren das neue Herz nach neun Tagen überhaupt noch nicht abgestoßen.
Die gelernte Immunsuppression ist klinisch relevant, aber auch allergische Reaktionen können abgeschwächt werden, und auch Menschen mit Autoimmunerkrankungen können von der Placeboforschung profitieren. Schedlowski und sein Team zeigten, dass auch menschliche Gehirne sich mit äußeren Reizen austricksen lassen. Allergikern gaben sie in einer Studie neben einem Antihistaminikum ein eigens kreiertes Getränk zu trinken – sowohl in Farbe als auch Geschmack einfach unvergesslich. Die Konditionierung funktionierte: Die Kontrollgruppe, die später ein Placebo und das Getränk bekam, hatte am Ende eine ähnlich gedämpfte allergische Reaktion wie diejenigen, die das Antihistaminikum und das Getränk bekamen. Eine dritte Gruppe aber, die ein Placebo ohne das Getränk erhielt, zeigte starke allergische Reaktionen. Ergo: Die Forscher zeigten, dass eine Konditionierung einen Placeboeffekt hervorrufen kann, der die gleiche Wirkung wie ein Medikament hat.
Durch Lernprozesse und Medikation, so Schedlowski, könnte vielleicht einmal die Reduktion der Medikation und der unerwünschten Nebenwirkungen durch die Medikamente erreicht werden. Möglich wäre auch, auf diese Art die Wirkung der Medikamente zu maximieren und Kos-
ten zu senken. Ein Feld ist hier die Transplantationsmedizin. Patienten müssen gegen Abstoßungsreaktionen kontinuierlich Medikamente einnehmen. „Aber sie sollten den Lernvorgang aufnehmen in die Medikamentengabe“.
Im Anschluss gab Prof. Dr. rer. soc. Winfried Rief vom Fachbereich Psychologie der Phillips-Universität Marburg einen Überblick über aktuelle Forschungsergebnisse von Placeboeffekten in der Psychopharmakologie. Rief verwies auf Antidepressiva-Studien, nach denen 68 Prozent der Verbesserungen auf den Placebo-Effekt zurückgingen („Wahrscheinlich ist der Effekt noch größer“) und Studien, wo Psychopharmaka „sich schwertun, besser zu wirken als Placebos“ (Es gab nur einen leicht positiveren Effekt für das Medikament). Manchmal wirkten Placebos sogar langfristiger als Medikamente, wie eine Benzodiazepinstudie gezeigt habe: Nach Absetzen des Medikaments ging es Placebo-Patienten besser.
Bei positiver Erwartung gibt es nach Einnahme von Medikamenten oder von Placebos eine Schmerzreduktion. „Wichtig ist aber die Instruktion des Arztes, die Wirkung eines Medikaments kann durch ein falsches Verhalten des Arztes fast komplett ausgeschaltet werden“, so Rief. Und auch bei depressiven Symptomen sei der Einfluss der Erwartung hoch – entsprechend stark wirkten hier Placebos.
Die Erwartungshaltung der Patienten erhöhe eindeutig die Wirkung der Medikamente, so Rief. Etwa wenn der Arzt dem Patienten anvertraue, ihm jetzt „superteure“ Pillen zu verschreiben oder ihn an einen „hochkompetenten“ Kollegen überweise. „Ein empathischer Arzt kann die Effektivität der Behandlung verdoppeln, und genügend Arztbesuche ersparen die Medikation“. Ziel müsse es in der Behandlung sein, die Erwartungen der Patienten zu optimieren. Eine Möglichkeit wäre etwa, sie vor Operationen zu animieren, aufzuschreiben, was sie drei Monate nach dem Eingriff machen wollen. Und sie positiv zu motivieren und auf Nebenwirkungen vorzubereiten: „Schmerz kann man gut aushalten, wenn man sagt, er geht bald weg“. Bei der Medikamentengabe sei wichtig, dass positiv stimulierende Erfahrungen gemacht werden. Und auch die Beteiligung von Patienten an Behandlungsentscheidungen habe einen Einfluss. So hätten die Probanden, die Placebo-Betablocker gegen Prüfungsangst erhielten, bessere Ergebnisse erzielt, wenn sie die Medikamente selber auswählen durften.
Es gelte aber auch zu verhindern, dass sich Nebenwirkungen entwickeln. „Ein jammernder Patient im Wartezimmer kann einen negativen Einfluss haben“, also zu einer negativen Erwartung und einen Nocebo-Effekt führen. Und es gibt auch einen Lerneffekt: Patienten beschrieben auch bei Placebos Nebenwirkungen, wenn sie vorher Medikamente mit Nebenwirkungen bekamen.
Michael Freitag