HAMBURG. 20 Ordner umfasst die gesammelte Briefkorrespondenz Dorothea Bucks aus den Jahren 1990 bis 2000, dem Jahrzehnt nach Erscheinen ihres Buches „Auf der Spur des Morgensterns“, in dem sie unter dem Pseudonym Sophie Zerchin ihren Weg mit der Psychose beschreibt, die sich nach fünf Episoden aus ihrem Leben verabschiedete. Hartwig Hansen und Fritz Bremer vom Paranus-Verlag haben sich der Mammutaufgabe gestellt, diese Schriften zu sichten, zu ordnen und einen Extrakt von 70 Schriftwechseln in einem Buch zu veröffentlichen.
„Mit meinen herzlichen Grüßen! Ihre Dorothea Buck“ ist ein einzigartiges Zeugnis: eine „dialogische Korrespondenz der Erfahrung“ nennen es die Herausgeber. Es gibt einen eindrücklichen Einblick in das Psychoseverständnis einer großartigen, ebenso beherzten wie überaus lebenspraktischen Grand Dame der Psychiatrie und der Selbsthilfe.
Sie suchte ein Atelier – und fand ein kleines Haus inmitten eines zauberhaften Gartens in Hamburg-Schnelsen. 1960 gab die Bildhauerin Dorothea Buck eine Zeitungsanzeige auf und bekam eine Garage, einen Dachboden und eben das Gartenhaus angeboten, das sie gleich begeisterte und in das sie im Frühjahr 1960 einzog. Sie lebte dort 53 Jahre, während derer sie unzählige Besucher empfing. 2013 verließ sie ihr Refugium, um in ein in der Nähe liegendes Pflegeheim zu ziehen, wo sie seither bettlägerig, aber mit hellwachem Geist, lebt. Und wo sie just, am 5. April, ihren 99. Geburtstag feierte!
Sie hat so vieles erlitten in ihrem Jahrhundert, die Psychiatrie der Nazizeit und danach, die Zwangssterilisation vor allem. Ihre Psychose aber hat sie nach der fünften Episode 1959 überwunden. Weil sie verstanden hat, was das Unbewusste ihr damit sagen wollte, so ihre Überzeugung. Dorothea Bucks wichtigste Message: Folge Deinen Impulsen. Dazu und zum Vertrauen in die Möglichkeit des Lernens ermutigt die Ehrenvorsitzende des Bundesverbands der Psychiatrie-Erfahrenen, den sie 1991 mitgründete, unermüdlich. Sie selbst ist getragen von tiefem Gottvertrauen sowie den Gedanken C.G. Jungs und dessem Verständnis vom Lernen und Wachsen durch seelische Verstörung – statt auf eben diese fixiert zu bleiben, wie es die Herausgeber im Nachwort erläutern.
In den Briefen, die sie im oben benannten Zeitraum erhält und beantwortet – schnell oder wegen vieler Verpflichtungen mitunter Monate später – wird auch die Verzweiflung vieler Betroffener und Angehöriger deutlich, die am Hilfesystem scheitern oder sich darin nicht aufgefangen oder gar schlecht behandelt fühlen und sich in ihrer Not an Dorothea Buck wenden, die stets kompetent und entschieden, mit Ratschlägen und Meinungen antwortet. „Erkennbar wird eine bundesweite Selbsthilfegruppe in der Form eines umfangreichen Briefwechsels. Die Gesprächsleitung hat Dorothea Buck. Sie gibt alltagspraktische Hinweise, ermutigt, den eigenen Impulsen zu folgen, kommt oft auf erstaunliche Ideen“, so Hartwig Hansen und Fritz Bremer.
In ihrer auf einer Reiseschreibmaschine getippten Gartenpost, oft veredelt durch Blumenkarten, macht sie sich intensive Gedanken über die Probleme der Adressaten. Bei ihren Antworten im Vordergrund steht immer die Ermutigung, die sie gegen den wohl größten Feind der Genesung, die Hoffnungslosigkeit, setzt. Auf die vielen Fragen, die sie rund um das Thema Psychosen gestellt bekommt, gibt sie meinungsstarke Antworten. Sie glaubt, dass die Psychose eine Möglichkeit ist, sich selbst – das eigene Unbewusste – kennenzulernen und sich selbst zu finden. Aber: „Dass in der Psychose sich ein göttlicher Wille dokumentiert, glaube ich nicht“, antwortet sie zum Beispiel auf eine diesbezügliche Frage. Einem zutiefst verzweifelten Schreiber aus der geschlossenen Abteilung erteilt sie glasklare Anweisungen, was als nächstes zu tun ist: 1. um Akineton bitten gegen die durch Neuroleptika verursachten Krampfanfälle, 2. Nagelbettentzündung behandeln lassen, 3. Bereitschaft erklären, die ihm von der Stadt zur Verfügung gestellte Wohnung zu beziehen. Die zweieinhalb Wochen, die er noch geschlossen untergebracht sei, werde er durchstehen. „Sie werden das schaffen, da bin ich mir sicher“, so Dorothea Buck. Einem anderen Schreiber gibt sie eine ausführliche Anleitung für Kneippmaßnahmen gegen Schlafstörungen. Zu unterstützen durch pflanzliche Mittel und körperliche Arbeit, möglichst in frischer Luft. Einer Verzagten in Angst vor einer herannahenden psychotischen Episode gibt sie den Tipp, sich alles Gute anzutun: gut essen, gut schlafen, warm baden, gute Gespräche mit vertrauten Menschen, vielleicht etwas Kava-Kava oder Johanniskraut. Für sie selbst zur Heilung wichtig gewesen sei: Ausdruck in Wort und Bild, genauer gesagt in der bildhauerischen Plastik. Ventil für Gefühle könne aber auch der Sport sein.
Sehr konkrete Selbsthilfetherapie gibt sie auch einer hoffnungslosen, lange seelisch kranken 53-Jährigen. Sie ermuntert die Frau, ihre Aufmerksamkeit von sich und ihren Diagnosen abzuwenden und auf andere Menschen in Not zu richten. „Vielleicht kennen sie einen Hilfe bedürftigen Menschen, etwa einen schwer sehbehinderten Menschen, dem sie vorlesen könnten. Bei der Konzentration auf den Text und im Gespräch darüber vergessen sie für diese Zeit ihre eigenen Schwierigkeiten.“ Weiter ermuntert sie dazu, den Kontakt zur Kirche zu suchen, wobei eine weibliche Pfarrerin vielleicht mehr Verständnis für ihre Ängste habe. Und schließlich: „Abends notieren sie in ein Tagebuch, ob dieser Tag weniger durch ihre Hoffnungslosigkeit beschattet war, ob Sie etwas Positives an diesem Tage erlebten.“ Schritt für Schritt werde sie sich nun selbst aus der Hoffnungslosigkeit befreien können. Wobei die „wirksamste Hilfe“ das Gebet sei, so die gläubige Pastorentochter, die auch Nichtgläubige aufruft, um Beistand einer göttlichen Kraft zu bitten.
Stets kritisch gegenüber einer herkömmlichen Psychiatrie, deren Gesprächsarmut die Erfahrene immer wieder beklagt hat, und einer Reduzierung von Behandlung auf Medikamente, motiviert sie immer wieder dazu, sich auch stark zu machen und eine humane Behandlung, Verbesserungen aktiv einzufordern. Ob sie sich schon mal „an die für Ihre Region zuständigen Politiker gewandt habe mit der Forderung, das Therapie-Angebot zu erweitern, fragt sie eine Mutter, die von den mangelhaften Hilfen für ihre Tochter berichtet. „Man darf da nicht locker lassen, wenn sich was ändern soll“, so Dorothea Buck. „Wenn Angehörige und Psychiatrie-Erfahrene den dafür zuständigen Leuten im Amt alle zusammen auf die Bude rücken, bis sich etwas ändert, wird das aller Voraussicht nach auch Erfolg haben“, schreibt sie im März 1992.
Daraus spricht der Geist einer Kämpferin, die die Gründung der Organisation Betroffener initiierte. 1992 wird der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener gegründet (BPE). Auch hierzu und zu den Diskussionen im BPE gibt es zahlreiche Materialien im schriftlichen Gesamtnachlass von Dorothea Buck, den sie bei Auszug aus dem Gartenhaus in Gänze dem Paranus-Verlag übertrug – als dem Verlag der Psychiatrie-Erfahrenen und des Trialogs. Auch andere thematische Meinungswechsel zu Themen wie Bioethik-Konvention, Briefaktion an alle Bischöfe und Synodalen in Deutschland wurden – vorerst – ausgeklammert zugunsten einer thematischen Schwerpunktsetzung. Weitere Briefwechselbücher sind explizit nicht ausgeschlossen.
Die Herausgeber rücken die Korrespondenzarbeit von Dorothea Buck neben die anderen großen Vorhaben ihres Lebens: Aufdeckung und Veröffentlichung der Schrecken der Psychiatrie im NS-Staat, Einsatz für Opferentschädigung, Erfindung der „Psychose-Seminare“ (gemeinsam mit Thomas Bock) und eben Gründung des BPE. Nicht nur Betroffenen und Angehörigen, auch allen Psychiatrie-Beteiligten sei ein Blick in diesen Briefwechsel ans Herz gelegt – nicht zuletzt, um vor dieser so geistesgegenwärtigen Kämpferin und Wegbereiterin abermals den Hut zu ziehen. Anke Hinrichs
Dorothea Buck u.a.: „Mit meinen herzlichen Grüßen! Ihre Dorothea Buck“. Der Gartenhaus-Briefwechsel, herausgegeben von Hartwig Hansen und Fritz Bremer, ISBN 978-3-940636-37-9, 208 Seiten, 19,95 Euro.