HAMBURG/LÜBECK. Barrierefreiheit bekommt im öffentlichen Raum einen immer größeren Stellenwert, was nicht zuletzt am behindertengerechten Ausbau der Bahnhöfe zu sehen ist. Aber wie sieht es mit der Barrierefreiheit in Arztpraxen aus?
Für Hamburg wollen dies in einem Pilotprojekt die Patienten-Initiative e.V. und die Kontakt-und Informationsstellen für Selbsthilfegruppen (KISS) in den kommenden Monaten herausfinden. Sie werden Barrierescouts in ausgewählte Arztpraxen schicken, die nach einer Checkliste prüfen, welche Erleichterungen es dort für behinderte Patienten gibt. Allerdings: Konzentriert wird sich auf die Bedürfnisse von Menschen mit Körperbehinderungen, die Barrierefreiheit für psychisch kranke Menschen spielt keine Rolle. Dabei zeigte nicht zuletzt ein Workshop der Brücke Schleswig-Holstein in Lübeck, dass es an der Barrierefreiheit für psychisch Kranke noch mangelt.
Die Kennzeichnung von Arztpraxen in Sachen Barrierefreiheit ist auf Portalen oft unvollständig, fehlerhaft und missverständlich, machte bei einer Pressekonferenz Kerstin Hagemann, Leiterin des Projektes „Barrierefreie Arztpraxen“, deutlich. Begriffe wie „behindertengerecht“, „rollstuhlfreundlich“ oder „bedingt barrierefrei“ sagten nichts über die tatsächlichen Zugangsbedingungen aus. Hagemann, die selber im Rollstuhl sitzt, erarbeitete mit ihren Mitstreitern eine Checkliste, in der Barrierefreiheit im Detail, z.B. auch in Zahlen, wiedergegeben wird. Wie steht es etwa mit der Bewegungsfläche für Rollis vor dem WC-Becken einer Arztpraxis? Wie hoch ist die Oberkante der WC-Brille? Gibt es Haltegriffe, und ist der Notruf liegend erreichbar? Die unterschiedlichsten Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen habe man im Fragekatalog berücksichtigt – von den Maßen einer Fahrstuhlkabine bis zur Regelung der Mitnahme eines Blindenführhundes oder der kontrastreichen Beschilderung der Praxisräume.
Die AOK finanziert das Projekt „Barrierefreie Arztpraxen“, deren Schirmherrin die Intendantin des Ernst Deutsch-Theaters und SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Isabella Vértes-Schütter ist, für ein Jahr. Die geschulten Barrierescouts werden nachmessen und nachfragen, um am Ende einen umfangreichen Kriterienkatalog zusammenzutragen, der schließlich auch im Internet abrufbar sein wird. Am Ende soll ein Stadtplan stehen, der im Idealfall auf einem regionalen Portal zu finden ist, angebunden an die Internetseite der Kassenärztlichen Vereinigung, und der Menschen mit Behinderung eine transparente Übersicht über für sie geeignete Praxen liefert. Es gehe dabei aber nicht um die Bewertung von Praxen, machte Hagemann deutlich. „Ein Arzt mit Stufen vor seiner Haustür kann für sehbehinderte Patienten gut ausgestattet oder mit Kenntnissen in Gebärdensprache eine wichtige Adresse für gehörlose Patienten sein. Wir wollen Vorhandenes sichtbar machen, damit die Suche leichter wird.“ Ein Ziel des Projekts sei aber auch, die Ärzte für das Thema Barrierefreiheit zu sensibilisieren und mit ihnen gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
„Barrierefreiheit“ für psychisch erkrankte Menschen spielt beim Abhaken der Checklisten aber keine Rolle – dies wurde bei der irritierten Nachfrage Hagemanns auf eine entsprechende Frage deutlich. Und das kommt auch nicht von ungefähr. „Unter Barrierefreiheit verstehen viele Menschen, wenn ein Eingang ohne Stufen und Hindernisse auch für Rollstuhlfahrer passierbar und eine Behindertentoilette vorhanden ist. Doch Barrieren für psychisch erkrankte Menschen kann man nicht sehen und darum sind sie so schwer erkennbar. Es sind vor allem Kontakt- und Kommunikationsbarrieren, die den psychisch Erkrankten zu schaffen machen“, so Kathrin Roßberg, die als Bereichsleiterin bei der Brücke Schleswig-Holstein einen Workshop unter dem Titel „Barrierefreiheit für psychisch kranke Menschen – was bedeutet das und was gehört dazu“ leitete.
Hier wurde offen kritisiert, dass ein Bewusstsein über Barrieren für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in Politik und Öffentlichkeit noch weitgehend fehle und dass sich die Behindertenbeauftragten nicht mit psychischen Erkrankungen auskennen würden. Die Forderung deshalb: Es sollten Behindertenbeauftragte/Behindertenvertrauensleute für seelisch behinderte Menschen zur Verfügung stehen. Eine Gleichstellung mit Körperbehinderten sei noch nicht erreicht, waren sich auch die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion – die Behindertenbeauftragte Erika Bade, Ulrike Tietz (Sozialpsychiatrischer Dienst Gesundheitsamt Lübeck) und Ingo Ulzhöfer (EX-IN) – einig. Für psychisch beeinträchtigte Menschen gebe es viele Barrieren im öffentlichen Leben, die es eigentlich laut der UN-Behindertenrechtskonvention und den deutschen Sozialgesetzbüchern so nicht geben dürfte.
Die Idee für den Workshop entstand in der InklusionsAG der BRÜCKE und hatte die Ziele, die Ist-Situation der Barrierefreiheit für psychisch erkrankte Menschen in Lübeck zu beschreiben und zu benennen, was eigentlich Barrieren für psychisch erkrankte Menschen sind und woran es noch fehlt, um eine barrierefreie Stadt zu bekommen. Das Stigma bereitet den Betroffenen offenbar die größten Probleme: Es fehle an Verständnis für die Probleme der Erkrankten, die für die Mitbürger oft unsichtbar seien, wurde in den Workshops moniert. Da komme dann leicht der Vorwurf des Simulantentums, etwa wenn es Betroffenen aus gesundheitlichen Gründen manchmal nicht möglich ist, das Haus zu verlassen oder einen Ämtertermin einzuhalten. Häufige Folge: Sanktionen wie zum Beispiel Leistungskürzungen. Roßberg: „Fehlendes Wissen führt zu Barrieren, und die mangelnde Akzeptanz ist eine Barriere.“ Einfachere Antrags- und Begutachtungsverfahren könnten da schon helfen.
Dominante Barrieren wie Stigmatisierung, aber auch „Schubladendenken“ oder mangelndes Wissen der Gesellschaft über psychische Krankheiten verhindern nach Ansicht der Workshop-Teilnehmer oft den Zugang der Betroffenen zu einem „normalen“ Alltagsleben. In der Veranstaltung gefordert wurden deshalb mehr niedrigschwellige, leicht zugängliche und flexible Hilfen (ohne Anträge), um Barrieren abzubauen und eine Ausgrenzung zu verhindern. Kontakt, Beratung und Hilfen seien zu hochschwellig, Begegnungen in Ämtern, Behörden und Betrieben selten auf Augenhöhe. Besonders schwierig sei es, Unterstützung im Bereich Eingliederungshilfe zu bekommen, langwierige und komplizierte Antragswerke seien hinderlich. Und oft sei der alte Arbeitsplatz gefährdet. Arbeitsmöglichkeiten ohne Druck und Verpflichtungen fehlten, Chancen auf einen Arbeitsplatz gebe es kaum, monierten die Workshop-Teilnehmer. Arbeitgeber stellten zu hohe Anforderungen. „Wir wollen da arbeiten, wo auch andere arbeiten dürfen“, wurde formuliert. Man wolle eine Ausbildung machen können mit der Erkrankung und Hilfen beim Umgang mit den Folgen der Erkrankung. Ein Gütezeichen (Logo) wurde als Idee ins Spiel gebracht, mit dem Organisationen, Ämter und Firmen ausgezeichnet werden könnten, wenn sie Barrierefreiheit für psychisch Erkrankte ermöglichen. Eine Rolle müsse dabei das Ende der Defizitorientierung und eine Hinwendung zu den Ressourcen und Fähigkeiten spielen.
„Wir wollen, dass die Anliegen von Menschen mit psychischer Erkrankung nicht mehr im Gewirr der rechtlichen Zuständigkeiten verloren gehen, sondern eine Institution, die sich von Anfang bis Ende verantwortlich und zuständig erklärt“, schrieben die Teilnehmer in ihren Forderungskatalog, etwa bei Hilfen im Arbeitsleben und für die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft/der Gesellschaft. Auch solle die Zwangsunterbringung beziehungsweise Zwangsbehandlung reduziert werden, was gelingen könne, wenn in den Kliniken genug qualifiziertes Personal vorgehalten werde. Als weitere Barrieren, die abgebaut werden müssten, wurden die Dauer bis zur Hilfeleistung genannt, die fehlende Akzeptanz der Erkrankung und ihrer Folgen bei allen Beteiligten und das Fehlen der Begegnung auf Augenhöhe, der Mangel an Vernetzung, Respekt und Wissen über Hilfsangebote und über psychische Erkrankungen in der Bevölkerung.
Einen Beitrag zur Entstigmatisierung wollen die Teilnehmer mit einem Arbeitsprojekt – analog zum „Dialog im Dunkeln“ – leisten, für das noch Mitstreiter gesucht werden. Die Barrieren für Menschen mit psychischen Erkrankungen müssten in den Köpfen der Menschen greifbarer/verstehbarer gemacht, in der Bevölkerung müssten mehr Informationen und mehr Wissen über seelische Erkrankungen verbreitet werden. Denn diese und ihre Folgen sind vielschichtig. „Eine Barrierefreiheit für den einen kann z.B. eine Barriere für den anderen darstellen“, betont Kathrin Roßberg. Etwa wenn der geschützte Rahmen fehle und Menschen auftauchten, die der Erkrankte nicht einschätzen könne.
Michael Freitag