Professor Karl H. Beine ist Chefarzt in Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke – und er ist der Experte in Sachen Serien-Patiententötungen in Kliniken. Gemeinsam mit einer Medizin-Redakteurin vom Bayerischen Rundfunk hat er nun ein Sachbuch vorgelegt, das als Aufhänger eine Befragung von mehr als 5000 Beschäftigten in Gesundheitsberufen nutzt. Seriöses Fazit, laut Universitäts-Pressestelle: „Die Zahl von Tötungen in deutschen Krankenhäusern fällt vermutlich höher aus als bisher angenommen“. Tatsächlich stellen Beine und Jeanne Turczynski die Systemfrage: Tötungsserien, wie in Oldenburg und Delmenhorst geschehen (Nils H.), müssten auch in Zusammenhang mit Strukturen gestellt werden, die Tötungen begünstigen würden. Die eher reißerische Vermarktung des Buches wirkte provokativ, Beine selbst relativierte das Befragungsergebnis etwas – doch bleibt das Buch über mögliche und reale Hintergründe von Gewalt an Kranken und Alten lesenswert und umfangreich recherchiert.
Der Sachbuchmarkt liebt steile Thesen und Skandale. Ankündigungen etwa wie „Professor Karl H. Beine und Jeanne Turczynski decken einen Skandal von ungeheurem Ausmaß auf“. Auf dem Rücken des Buches heißt es „Opfer der Profitgier im Gesundheitssystem: 21.000 getötete Patienten im Jahr?“ So reißerisch ist das Buch selbst nicht verfasst, das aber angesichts der Fülle an Daten, Fakten und Zusammenstellungen durchaus Schrecken verursacht (und das ganz ohne die Diskussion um Keime und Hygiene …).
Die heikle Zahlen-Hochrechnung verdrängte jedoch erstmal die weiteren Inhalte. Dem Präsidenten der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Dr. Theodor Windhorst, platzte gar der Kragen, für ihn ging es um „hirnrissige und unverantwortliche Panikmache eines selbsternannten heilkundlichen Experten“. Auch SPD-Gesundheits-Experte Karl Lauterbach bezweifelte die hohe Zahl 21.000, es sei aber gut und lobenswert, dass es das Buch gebe, es handele sich um „ein Debattenbuch, kein wissenschaftliches Buch“.
Für die besagte Studie hatten Beine und seine Kollegen rund 5000 Ärzte, Kranken- und Altenpfleger gefragt, ob sie selbst in den vergangenen zwölf Monaten lebensbeendende Maßnahmen aktiv an Patienten vorgenommen oder solche in ihrem beruflichen Umfeld beobachtet hätten. In Krankenhäusern, so Beine, hätten gut 3 Prozent der Ärzte geantwortet, sie selbst hätten dies bereits getan, ebenso 5 Prozent der Altenpfleger und 1,5 Prozent der Krankenpfleger. In den Pflegeheimen seien die Ergebnisse ähnlich gewesen. Rechnet man diese Zahlen auf alle Ärzte und Pflegekräfte in deutschen Kliniken und Heimen hoch, käme man auf die Zahl von 21.000. Im Gespräch mit der „Welt am Sonntag“ hatte Beine, der im Buch betont, dass die Zahlen der Studie nicht repräsentativ seien und es sich um eine empirische Schätzung handele, eingeräumt, dass ihm bei der Umfrage möglicherweise Fehler unterlaufen sind: Umfrageteilnehmer könnten die Frage falsch verstanden haben und manche das Abschalten von Maschinen aufgrund von Patientenverfügungen mit angegeben haben.
Doch geht es ja um mehr als um Zahlen. Nicht umsonst führte der Fall des Krankenpflegers Niels H. dazu, dass der niedersächsische Landtag einen Sonderausschuss ins Leben gerufen hat, der klären sollte, welche Konsequenzen mit Blick auf Patientensicherheit zu ziehen seien. Aktuell liegt jetzt eine Novelle des Krankenhausgesetzes mit Neuerungen auf dem Tisch.
Warum wurde die Tötungsserie von Niels H. so lange nicht aufgeklärt bzw. wurde sie nicht sogar aktiv vertuscht? Fragen wie diese führen Beine und Turczynski vom Einzelfall zur Systemfrage. Auch fragen sie, wie es zu einer Vielzahl von Behandlungsfehlern durch falsche Medikamentenvergabe kommen kann und was sich hinter Vorfällen verbaler oder auch tätlicher Gewalt in Pflegeheimen verbirgt. Sie landen – nicht neu – immer wieder bei eklatantem Personalmangel. Die Gesundheitsberufe werden explizit nicht an den Pranger gestellt, wohl aber das System aus Fallpauschalen und Fehlanreizen inclusive den zu geringen Investitionskostenzuschüssen der Länder, was noch mehr antreibt, mit weniger – und oft überlastetem – Personal mehr Fälle durchzuschleusen und Gewinne zu erwirtschaften. 17 Millionen Fälle wurden im Jahr 2000 gezählt und rund 19 Millionen in 2012. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Arztstellen von 110.152 in 2001 auf 150.757, während die Zahl der Pflegestellen von 331.472 auf 318.749 sank (bei hohem Krankenstand). Und nahezu ein Viertel der Gesamtkosten würden für Verwaltung aufgewendet, so die Recherchen.
Die Autoren fordern – neben Aspekten wie besserer Ausbildung, neuer Fehlerkultur und Supervision – nicht weniger als einen radikalen Wechsel. Ihre Forderungen: eine an der Personalstruktur festgemachte Qualitätskonkurrenz statt Erlöskonkurrenz, die Auflösung der starren Grenzen zwischen stationär und ambulant und, am elementarsten, die bei Regional-Politikern so unbeliebte Schließung unrentabler Kliniken. Denn: Die Masse an Kliniken fresse die Ressourcen auf. In Europa liege Deutschland mit acht Betten pro 1000 Einwohnern an der Spitze – das seien dreimal soviel wie in Schweden, wo auf eine Schwester fünf Patienten kommen. Die Qualität der Gesundheitsversorgung hier werde dagegen trotzdem nur im mittleren bis unteren Bereich angesiedelt. „Krankentötungen werden sich vermutlich nie ganz verhindern lassen“, so die Autoren. Doch könne man diese durch grundsätzliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen sehr viel unwahrscheinlicher machen, meinen sie.
Anke Hinrichs / Originalveröffentlichung: Eppendorfer 4 / 2017