BIMÖHLEN. Es ist ein politischer Dauerbrenner – manch einer spricht von einem Skandal – mit schwerwiegenden Folgen. Während Fachleute eine Zunahme an komplexeren Problemlagen sehen, fehlt es insbesondere in Metropolen wie Hamburg und Berlin an Wohnungen und an Plätzen bzw. an der Unterbringung für schwer psychisch krankes Klientel. Bundesweit soll es Fälle geben, in denen Kliniken Patienten dann trotz richterlichem Beschluss aus der Klinik entlassen – Gefahr der Forensifizierung oder Selbstgefährdung inklusive. Andere Patienten werden in andere Bundesländer „verschickt”. Das kann auch Vorteile haben. Der EPPENDORFER schaute sich die im wesentlichen geschlossene Einrichtung der Mederius GmbH in Bimöhlen an.
Er hat fast jeden Tag Cannabis geraucht. Irgendwann hörte er Stimmen. Als sie ihm sagten, er solle sich umbringen, versuchte er es – und kam zum ersten Mal in die Klinik. Das war in Schwerin. Und es sollte nicht sein einziger Versuch bleiben, von Drogen wegzukommen. Immer wieder wurde René A., 33, rückfällig. Nahm irgendwann auch Amphetamine, Speed. Bis sein Betreuer einen Antrag auf Unterbringung in einem geschlossenen Heim stellte. So kam René A. in die Einrichtung der Mederius GmbH nach Bimöhlen. Was ihm hier half? Sport, Stallarbeit, Suchtgruppe, Gespräche, das Lernen, „nein“ zu sagen. Zudem bekomme er eine Depotspritze, die er gut vertrage. Am meisten geholfen habe, dass das alte Umfeld nicht mehr da war, sagt er. Jetzt steht René A. kurz vor der Entlassung. Und diesmal ist er sicher, dass es klappt mit dem drogenfreien Leben. Erstmal bei den Eltern. Die Familie habe ihn immer unterstützt. Seine Ziele: Den Führerschein möchte er wiederbekommen und eine Ausbildung machen. Und nebenbei wieder in seinem alten Verein Fußball spielen.
Ein glücklicher Übergang, so scheint’s. Doch oft gibt es Probleme mit der Anschlussversorgung, wenn der in der Regel sechs- bis zwölfmonatige Unterbringungsbeschluss der Klienten in dem im wesentlichen geschlossen geführten Heim in Bimöhlen ausläuft. Insbesondere in Hamburg fehlt es an Wohnungen und Betreuungsplätzen für besonders schwer erkranktes Klientel. Sowohl im offenen als auch im geschlossenen vollstationären Bereich. Ein politisches Dauerthema. Und in der Praxis „ein Riesenproblem“, so Geschäftsführer Christian Henning. Eine Folge: Kliniken müssten mitunter Patienten entlassen, die einer geschlossenen Unterbringung bedürfen, für die aber kein Platz gefunden wird – während der Medizinische Dienst der Krankenkassen keine Kostenzusage mehr gebe, da er die Akutbehandlung für abgeschlossen halte, so Henning. Auf der anderen Seite bleiben mitunter geschlossen Untergebrachte auch nach Auslaufen des Beschlusses notgedrungen weiter in Bimöhlen. Eine Frau warte schon seit über einem Jahr auf einen Platz in einer geeigneten Einrichtung in Hamburg. Einem Ex-Klient sei die Wartezeit auf einen Platz zu lange geworden. Er kehrte auf die Straße zurück, wurde vor kurzem wieder in die Klinik zwangseingewiesen, aus der er dann flüchtete. „Dabei hätte er eigentlich gute Chancen gehabt“, so Simone Augustin, Therapie- und Wohnbereichsleiterin.
In Bimöhlen gibt es täglich Anfragen. Einigen tue es gerade gut, aus dem sozialen Umfeld heraus aufs Land zu kommen, so Christian Henning. Aber viele hätten auch Heimweh, berichtet Simone Augustin, vermissten Eltern, das alte Leben. Bei Mederius zählt nicht nur Wartezeit, „vier bis sechs Wochen“, sondern auch, ob der- oder diejenige in eine der Wohngruppen passt. „Wir gucken uns die Bewohner vor Ort an“, erklärt Christian Henning. Mit einer Bildermappe wird dem möglichen Klienten das Angebot in der Klinik vorgestellt. Eine Grundvoraussetzung für eine Aufnahme sei die Akzeptanz des Klienten für eine Therapie: „Wir wollen ein Muss in ein Wollen verwandeln“, so Henning.
Nicht genommen werden (können) Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen und Impulskontrollstörungen. „Das kriegen wir hier nicht gehändelt“, so Simone Augustin. „Die brauchen eine andere Behandlung, vor allem Psychotherapie, und die kriegen wir hier nicht refinanziert.“ Dabei sei gerade auch hier der Bedarf wachsend. „Es gibt eine Tendenz zu mehr Persönlichkeitsstörungen und hoher Gewaltbereitschaft“, meint Henning, was er auf Drogenkonsummuster und die Veränderung bzw. Verschlechterung der Lebensumstände vieler Patienten zurückführt.
Henning ist eigentlich Anwalt und jetzt auch „Finanzminister“ und „Fitnesstrainer“. Einmal am Tag mit den Klienten im Fitnessstudio im ersten Stock des Verwaltungssitzes zu trainieren bringt ihm viel Spaß. Wie auch die „Heimarbeit“ an sich, man merkt es ihm an. Dabei war er eigentlich gekommen, um die Insolvenz des Heimes – das damals „Luisenhof“ hieß und einen schlechten Ruf hatte – zu verwalten. Doch er und seine Frau Maren Töpper-Henning – Betriebswirtin, Fachpflegekraft für Intensivmedizin und Pädiatrie und ebenfalls Geschäftsführerin – entschieden anders. Nach einer umfassenden Sanierung kauften sie die Einrichtung kurzerhand selbst. „Nach der 2668.ten Kündigung habe ich beschlossen, das muss nicht mehr sein“, so Henning, der zuvor als „Hardcore-Anwalt“ bundesweit Kliniken, Heime und Rehaeinrichtungen durch die Insolvenz begleitete. Nun kommt seine Rechtskundigkeit den Klienten zugute. Ob sie in Folge von Beschaffungskriminalität mit der Justiz zu tun haben, in einer Psychose eine Wohnung zerlegt haben oder gewalttätig geworden sind, oder ob einer Schulden hat oder eine Privatinsolvenz ansteht – in Bimöhlen ist dies oft Chefsache.
Seit der Übernahme und Neuausrichtung habe das Heim Quantensprünge gemacht, so Simone Augustin. Sie ist schon seit 2000 in Bimöhlen tätig und hat alle Veränderungen live miterlebt. Heute ist die Fachkraftquote mit 64 Prozent hoch. Das Angebot – das von Trommelgruppe über Räucherofen und Sporthalle bis zu Reitplatz und Angeln reicht – ist sehr vielfältig. Und das Team – Henning nennt die Mitarbeiter „Juwelen“ – multiprofessionell. Es gibt Alten- und Krankenpfleger, Physio- und Ergotherapeuten, Arbeits- und Suchttherapeuten, Heilerziehungspfleger und Sozialarbeiter. Mittwochs kommt ein Psychiater ins Haus.
Im Dorf vorhandene Berührungsängste seien durch Aktionen wie ein gemeinsames Sommerfest abgebaut worden. Die Dorfbewohner seien von der Umwandlung des ehemaligen Altenpflegeheims in eine psychiatrische Einrichtung durch den Vorbesitzer „etwas überrollt“ worden, erklärt Simone Augustin. Geschlossene Unterbringung hätten sie mit Forensik assoziiert. „Wir haben dann deutlich gemacht, dass die Bewohner nur wegen Eigengefährdung hier sind.“
Ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft ist auch deshalb so wichtig, weil „Normalität leben“ im Zentrum des Konzepts steht. Die drei Häuser liegen mitten im Dorf, die Therapiestätten außerhalb der Wohnbereiche. Die Bewohner sollen jeden Tag zur Therapie „ausschwärmen“, anfangs in Begleitung, bald dann allein. „Step by step“ geht es hier im geschützten Rahmen voran, vor der Entlassung werden erst mal Urlaube ausprobiert. „Viele überschätzen ihre Fähigkeiten“, so Henning. Wer mit 13 Jahren mit Heroin angefangen habe oder, wie so viele, politoxikoman war, also alles mögliche an Drogen durcheinandergenommen hat, dem drohen später kognitive Einschränkungen. „Viele sind auch nicht mehr allein wohnfähig“, so Henning. Eine Klientin kam wegen Eigengefährdung infolge einer schweren Depression und blieb viele Jahre. Die fast 60-jährige Alkoholikerin kämpft bis heute und nach langjähriger Behandlung immer noch täglich gegen den Suchtdruck. Sie leidet am Korsakow-Syndrom. Anke Hinrichs
Stichwort: Mederius GmbH
In der über SGB XI finanzierten Langzeiteinrichtung der Mederius GmbH in Bimöhlen (900 Einwohner) kümmern sich 80 Mitarbeiter um 90 Bewohner, 75 Plätze werden geschlossen, 15 offen geführt. Es gibt drei Wohnbereiche mit verschiedenen Schwerpunkten: einer beherbergt vor allem jüngere Patienten mit Psychose und Sucht. Im zweiten Bereich werden vor allem körperlich und geistig Mehrfachbehinderte mit Intelligenzminderung sowie auch an Psychose und Sucht Erkrankte mit schweren Einschränkungen betreut. Der dritte Bereich beherbergt Menschen mit demenziellen sowie chronifizierten psychiatrischen und Alkoholerkrankungen (z.B. Korsakow), s.a. www.mederius.de.
Wenn es an Heimplätzen mangelt: Der Druck der Kassen und die Nöte der Kliniken
HAMBURG (hin). Für ältere Patienten mit Unterbringungsbeschluss stehen in Hamburg insgesamt 4 Pflegeheime mit 1-2 Stationen á 20 bis 30 Plätzen zur Verfügung, so Dr. Franz Jürgen Schell, Medizinischer Pressesprecher von Asklepios: „Damit ist die Versorgung nach unserer Erfahrung fast ausreichend sichergestellt.“ Für jüngere Patienten mit Unterbringungsbeschluss gebe es im Rahmen der Eingliederungshilfe in Hamburg 16 geschlossene Plätze. Da der Bedarf höher ist, müssen solche Patienten oft in Einrichtungen nach Schleswig-Holstein oder Niedersachsen verlegt werden. Das wiederum führe bei den Patienten, „die ohnehin meist nur über ein rudimentäres soziales Netzwerk verfügen“, oft zu einem weiteren Verlust von Sozialkontakten. Die stationäre Eingliederungshilfe bedürfe einer Mitarbeit durch den Patienten, und wenn diese aufgrund ihrer Krankheit „dazu nicht in der Lage sind oder sehr auffälliges Verhalten zeigen, wird es besonders schwierig, eine geeignete Einrichtung zu finden. Manchmal müssen dann auch jüngere Patienten mangels Alternative in gerontopsychiatrische Einrichtungen verlegt werden.“ Tatsächlich gebe es einen deutlich spürbaren Druck durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, der die Indikation zur stationären Akutbehandlung bei diesen Patienten hinterfragt. Allerdings sei „nur ein konkreter Fall in sechs Jahren bekannt, in dem ein Beschluss aufgehoben und der Patient entlassen wurde“, so Schell. Dieser sei dann in eine Obdachloseneinrichtung gegangen „und musste kurze Zeit später erneut stationär aufgenommen werden“. Die „Kumulation der Problemlage“ sei bei den betroffenen Patienten schwerer geworden, so der Asklepios-Sprecher weiter. Dies betreffe hauptsächlich schwer chronisch und psychotisch Kranke, „die in einer offenen Einrichtung nicht klar kommen und daher langfristig einer geschlossenen Einrichtung bedürfen. In vielen Fällen kommen zusätzliche Probleme wie z.B. Abhängigkeitserkrankungen als Komorbiditäten dazu.“ In der Psychiatrie der Helios Kliniken Schwerin hat es Fälle geben, in denen Patienten ein halbes oder auch ein ganzes Jahr länger behalten wurden, als angebracht gewesen wäre, weil keine passende Nachfolgeeinrichtung gefunden wurde. Entlassen worden sei in Schwerin deshalb noch keiner, so Dr. Thomas Nissen, Stationsarzt in der geschlossenen Abteilung auf EPPENDORFER-Anfrage. Aus anderen Bundesländern habe er jedoch oft von Kliniken gehört, in denen Patienten aus Mangel an einem Heimplatz trotz gültigem richterlichem Beschluss aus der Akutpsychiatrie entlassen worden seien. In solchen Fällen drohe im schlimmsten Fall die Gefahr einer Eigen- oder Fremdgefährdung bzw. Straffälligkeit mit nachfolgender Unterbringung in der Forensik. Besonders schwer sei es, ganz schwierige Patienten in einem Heim unterzubringen. Schwerin verlege bis zu 15 Patienten im Jahr in geschlossene Heime, davon einige mangels ausreichender Kapazität in der näheren Umgebung nach außerhalb – so auch nach Bimöhlen.
(Originalveröffentlichung: Juli/August 2016)