Mit dem deutschen Titel für „55 steps” hatten die Verantwortlichen so ihre Probleme: Erst sollte das Psychiatriedrama „Wenn Dir Flügel wachsen“ heißen, doch jetzt kam die belgisch-deutsche Produktion von Regisseur Bille August am 3. Mai mit dem Titel Eleanor & Colette in die deutschen Kinos. Im Film, der sich an einer wahren Geschichte orientiert, kämpft die an Schizophrenie erkrankte Eleanor Riese mit der Patientenrechtsanwältin Colette Hughes um ein Mitspracherecht bei der Medikation von Patienten mit psychischen Krankheiten.
55 Stufen hat die Treppe zum Gerichtssaal im Kalifornien der 80er Jahre – und „55 steps“ heißt auch der Film im Original, der den schweren Kampf einer psychisch kranken Amerikanerin gegen eine unmenschliche Zwangspsychiatrie und Medikamentenüberdosierung und für die Verbesserung von Patientenrechten zum Inhalt hat – und die Freundschaft einer kampfesmutigen Patientin mit der für sie streitenden Anwältin.
Eleanor Riese (Helena Bonham Carter) leidet an paranoider Schizophrenie und weiß, dass sie nur mit Medikamenten ein eigenständiges Leben führen kann. Wegen starker Nebenwirkungen fordert sie jedoch, ihre Medikation selbst mitzubestimmen. Als ihre Ärzte ihr das verweigern, heuert Eleanor die Anwältin Colette Hughes (Hilary Swank) an. In einem so gut wie aussichtslosen Verfahren stellen sich die beiden gegen ein übermächtiges Establishment aus Pharmaindustrie und Ärzten, schaffen es aber, ihren Fall bis zum obersten Gerichtshof zu bringen. Ein gemeinsamer Kampf um Gerechtigkeit, mit dem die ebenso exzentrische wie liebenswerte Eleanor das Leben der verbissenen Colette gehörig durcheinander bringt, und der sie letztlich zu mehr macht als zu Mandantin und Klientin: Sie werden Freundinnen, die sich Halt geben, voneinander lernen und gegenseitig ihr Leben verändern …“
Soweit die Presseheft-Kurzfassung eines großartigen Films, der authentisch ist und ohne Klischees auskommt – und tief im Herzen berührt. Eigentlich ein Werbefilm für Betroffene. Mit einer bezaubernden Hauptperson: einer Anti-Heldin als Heldin, die alles andere als eindimensional daherkommt. Die von Antipsychotika schwer beschädigte ungewöhnliche Frau, die an der Blase und an Schmerzen leidet, ist auch beißend sarkastisch und unverblümt. Sie ist keine einfache, aber eine auf ihre Art liebenswerte Person, enorm lebensklug. Sie lässt kein Nein als Antwort gelten und beharrt darauf, auch selbst zu geben, womit sie es schafft, die Mauer der Distanz ihrer Anwältin zu durchbrechen – zum Wohle beider. Daneben sieht man sie als eine, die Musik liebt und eine Leidenschaft für 7-Up und Eis hat. Die unermüdlich Rosenkränze bastelt und sehr religiös ist – was vom Krankenhaus als Wahnvorstellung interpretiert und mit Verboten geahndet wird.
Helena Bonham Carter hat eine Meisterleistung vollbracht. Die echte Eleanor Riese ist tot. Doch Colette Hughes, die Anwältin, stand den Filmern als Zeitzeugin für Fragen zur Verfügung. Wie würde sie, die die echte Eleanor kannte, deren Film-Pendent finden? „Meine Sorge war, ob Eleanor auch wirklich als dreidimensionaler, komplexer Mensch mit allen Ecken und Kanten, aber eben auch mit ihren Emotionen und Gedanken dargestellt wird. Zum Glück war das unbegründet, denn der Film macht genau das. Ich finde ,Wenn Dir Flügel wachsen’ ausgesprochen gelungen und wunderschön“, zitierte das Presseheft Colette Hughes.
Die echte Eleanor Riese war als Spätfolge einer kindlichen Gehirnhautentzündung im Alter von 25 Jahren an Schizophrenie erkrankt und nahm viele Jahre das Neuroleptikum Thioridazin, bis die Nebenwirkungen Anfang der 80er Jahre immer stärker wurden, sodass die Medikation umgestellt werden musste. Die Präparate, die sie dann einnahm, führten ebenfalls zu starken Nebenwirkungen oder blieben wirkungslos, berichtete die taz („Psychiatriedrama wird Kinostoff“). Im Jahr 1985 ließ sie sich demnach schließlich freiwillig mit akuten Symptomen in ein Krankenhaus in San Francisco einliefern. Nachdem ihr dort verschiedene Substanzen verabreicht worden waren, die sie wegen der Nebenwirkungen nicht vertrug und deren Einnahme sie schließlich verweigerte, sei sie im Krankenhaus zwangsweise behandelt und unter Betreuung gestellt worden. Parallel wurden ihr gegen ihren Willen und unter Gewaltanwendung intravenös Medikamente verabreicht.
Dagegen klagte die Amerikanerin. Und erreichte letztlich ein Urteil, das für rund 150.000 Psychiatriepatienten in den Vereinigten Staaten einen Meilenstein darstellte: „Der State Court in Kalifornien entschied 1987, dass auch zwangseingelieferte Patienten das Recht haben, über die Anwendung von Antipsychotika informiert zu werden und mitzubestimmen. Eine unfreiwillige Behandlung konnte von da an nur noch mit einer richterlichen Entscheidung durchgesetzt werden“, so die taz.
Eigentlich hätte der Film schon viel früher entstehen können. Drehbuchautor Mark Bruce Rosin kontaktierte die Anwältin Colette Hughes bereits 1991. Er hatte seine Karriere als Berichterstatter über die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg begonnen und war in der Zeit auch ehrenamtlich als Mitarbeiter am Chicago State Mental Hospital tätig. Später machte er sich einen Namen als Autor von Independent-Filmen. Auf Eleanor Riese stieß er per Zufall. Er hörte im Radio ein Interview mit einem Anwalt, der als Rechtsbeistand für Menschen mit psychischen Erkrankungen arbeitete. Als Rosin ihn kontaktierte, erzählte er ihm von Eleanor Riese und ihren Anwälten. Rosin war sofort klar, dass er den Stoff verfilmen wollte. Er recherchierte anhand von Interviews und Dokumenten. Doch eine filmische Umsetzung in den USA gelang nicht.
Erst über den Kontakt zu der deutschen Filmproduzentin Anita Elsani (elsani film), die die Zügel in die Hand nahm, konnte das Projekt Fahrt aufnehmen. Und so kommt es, dass der amerikanische Stoff als deutsche Kopro- duktion an den Start geht, mit deutschen Fördergeldern und – von Außenaufnahmen in San Francisco abgesehen – zum Großteil in Köln und Umgebung gedreht. Passt er doch auch bestens in dieses Land, in einer Zeit, in der Zwangs- behandlung ein Dauerbrenner ist und aktuell auf ein Verfassungsgerichtsurteil zum Thema Fixierung gewartet wird … Anke Hinrichs