Gewalt zwischen Pflegenden und älteren Patienten ist in deutschen Seniorenheimen, Krankenhäusern, aber auch zu Hause keine Ausnahme. Experten fordern, das Problem endlich ernster zu nehmen. Sogar der „Tatort” nahm sich am 11. März der Pflegenöte und des Tabuthemas Gewalt in der häuslichen Betreuung an. Das passt in die Zeit: Seit der Bundestagswahl ist die Situation der Pflege von bundesweit drei Millionen Pflegebedürftigen, von denen etwa drei Viertel zu Hause betreut werden, wieder in den Focus des öffentlichen Interesses gerückt.
KÖLN / BREMERHAVEN (epd/rd). Jeden Morgen hatte Helga Niemann das gleiche Problem mit ihrer demenzkranken Mutter: Die 92-Jährige sträubte sich, wenn sie gewaschen und angezogen werden sollte. „Sie machte sich steif wie ein Brett.“ Irgendwann riss der Tochter, die eigentlich anders heißt und namentlich nicht genannt werden möchte, der Geduldsfaden. „Ich schrie sie an und haute ihr das Handtuch um die Ohren.“ Das könnte auch eine Szene aus dem Tatort „Toter Winkel“ sein. So heißt der vorletzte Krimi mit Sabine Postel und Oliver Mommsen als Kommissare Inga Lürssen und Nils Stedefreund. Die ARD strahlte ihn am 11. März zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr aus.
Dieser Film und der letzte Bremen-Tatort, der im Herbst auf den Bildschirm kommt, wurden vergangenes Jahr in Bremerhaven gedreht, und zwar unter anderem im AMEOS Klinikum Mitte Bremerhaven. Ab 2019 muss die Tatort-Fangemeinde dann ohne Lürssen und Stedefreund leben. Mit „Toter Winkel“ bringen sie noch mal ganz harten Tobak in die deutschen Wohnzimmer. Gezeigt werden restlos überlastete und einsame Angehörige. Der ganz private Pflegenotstand wird vielschichtig angerissen: Eine Tochter fixiert und schlägt aus Überforderung ihre demente Mutter. Ausgangspunkt der Geschichte ist ein Rentner, der seine demenzkranke Frau ermordet („Wir haben uns das Leben nicht mehr leisten können“). Es gibt Suizide und einen ermordeten Gutachter, der sich von Pflegediensten bestechen ließ, die wiederum die Krankenkassen betrügen, indem sie Leistungen abrechnen, die sie gar nicht erbracht haben.
Und das Schlimmste an dem Ganzen: Es ist realistisch. Die Drehbuchautorin Katrin Bühlig hat sich sozialkritischen Themen verschrieben. 2014 wurde ihr Dokumentarfilm „Restrisiko –- ein Film über Menschen im Maßregelvollzug“ mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Für „Toter Winkel“ hat sie einen Gutachter bei seiner Arbeit begleitet, mit vielen pflegenden Angehörigen gesprochen und einen Fachberater der Bremer Polizei zurate gezogen. 30 bis 40 Prozent der Angehörigen üben schon einmal verbale oder physische Gewalt gegenüber einem pflegebedürftigen Verwandten aus. Zu diesem Ergebnis kommen verschiedene Studien, die das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) zusammengetragen hat. Ähnlich sieht es in Seniorenheimen oder Krankenhäusern aus. Das fand das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung in Köln in einer im Herbst 2017 veröffentlichten Umfrage unter rund 400 Pflegekräften und Pflegefachschülern heraus. „Fast jeder dritte Befragte sagt, dass Maßnahmen gegen den Willen von Patienten, Bewohnern und Pflegebedürftigen alltäglich sind“, berichtet Institutsdirektor Frank Weidner. Zehn Prozent der Befragten hatten in jüngster Zeit konkrete Gewalterfahrungen.
Das Problem: „Fast alle Angehörigen oder Pflegekräfte fangen liebevoll und idealistisch mit der Pflege an. Aber sie stoßen dann oft an ihre Grenzen“, beobachtet Gabriele Tammen-Parr, Leiterin von „Pflege in Not“, der diakonischen Beratungs- und Beschwerdestelle bei Konflikt und Gewalt in der Pflege älterer Menschen in Berlin. Die Folge seien nicht nur Handgreiflichkeiten, sondern auch psychische Gewalt. Denn auch unterlassene Hilfe oder das Hinweggehen über Wünsche seien Misshandlungen, die häufig vorkämen, sagt Tammen-Parr. Etwa wenn ein Patient darum bitte, auf die Toilette gebracht zu werden, und dann zur Antwort bekomme, er möge in die Windel machen. Das sei extrem erniedrigend. „Das Thema Gewalt in der Pflege ist in jüngster Zeit noch akuter geworden, als es ohnehin schon war“, stellt Tammen-Parr fest. Grund sei der zunehmende Mangel an Pflegekräften.
Um mehr Pflegekräfte gewinnen und einstellen zu können, fordert Pflegeexperte Weidner von der künftigen Bundesregierung einen Masterplan für die Pflege. Dafür würden mindestens zwölf Milliarden Euro pro Jahr benötigt. „Ein Ruck durch das System ist nötig“, sagt der Experte. Außerdem müsse das Thema Gewalt und Aggression in der Aus- und Weiterbildung einen höheren Stellenwert bekommen. Denn auch Pflegende werden häufig angegriffen. In einer repräsentativen Umfrage des ZQP gaben 40 Prozent von ihnen an, schon einmal Opfer von Aggressionen von Pflegebedürftigen geworden zu sein.
Doch obwohl Gewalt und Aggressionen im Heim- und Krankenhausalltag offenbar Normalität sind, beschäftigen sich wohl die wenigsten Einrichtungen mit dem Problem. Das Thema sei immer noch ein Tabu, beobachtet Tammen-Parr. Das bestätigt auch die Umfrage des Instituts für angewandte Pflegeforschung. Darin gaben rund 80 Prozent der Pflegekräfte an, dass Gewalterfahrungen sowohl von Patienten als auch von Pflegenden selten oder nie thematisiert und aufgearbeitet werden. „Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass es in Altenheimen, Krankenhäusern und in der ambulanten Versorgung endlich eine neue Kultur des Hinschauens und der Achtsamkeit geben muss“, fordert Weidner. Über Gewalt in Pflegebeziehungen werde viel zu häufig noch geschwiegen, stellt auch ZQP-Vorstandsvorsitzender Ralf Suhr fest. „Momentan bewegen wir uns hier gesellschaftlich noch viel zu sehr in den Wahrnehmungsextremen Gleichgültigkeit und Scham oder einer Skandalisierung und Stigmatisierung.“
Helga Niemann schaute sich nach Hilfe um, nachdem ihr bei ihrer Mutter die Nerven durchgegangen waren. Sie wandte sich an eine der Beratungs- und Beschwerdestellen für alte Menschen, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Krisentelefone organisiert sind. Dort fand sie eine verständnisvolle Beratung. „Das war eine Erleichterung für mich“, sagt sie. Jetzt kommt morgens ein Pflegedienst, das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter sei deutlich kon- fliktärmer geworden. Informationen hierzu gibt es auch im Internet auf der Seite http://www. beschwerdestellen-pflege.de.