“Der Ton wird rauer“ – Kieler Tagung diskutierte verschärfte Bedingungen
für traumatisierte und psychisch erkrankte Geflüchtete
Von wegen Einwandern in die Sozialsysteme: Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, erhalten nur bei akuten Krankheiten oder Schmerzen medizinische Versorgung. Nun wird diese Regelung noch verschärft: Erst nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland – statt wie bisher nach 18 Monaten – gibt es mehr als minimale Hilfen. Fachleute fürchten besonders für psychisch Kranke schwere Folgen und damit hohe gesamtgesellschaftliche Kosten.
„Für eine von Humanität und Rechtsstaatlichkeit geprägte Asyl- und Migrationspolitik“ heißt das neue Gesetz, das eine Reihe von Veränderungen in der Asylpolitik mit sich bringt. Es ist ein zynischer Titel aus der Sicht zahlreicher Verbände, die zum Jahresanfang in einem Brandbrief dagegen protestierten.
So gibt es unter anderem für Menschen mit Behinderungen keine Sonderregelungen für Hilfsmittel oder Medikamentenkosten mehr. „Heute ist auf der elektronischen Gesundheitskarte für Geflüchtete nach der Kreisverteilung hinterlegt, dass das Asylbewerberleistungsgesetz gilt. Damit kann ein Arzt nur eine Notfallbehandlung vornehmen und bei weitergehenden Leistungen zur Genehmigung beim Sozialamt einen Antrag stellen“, sagt Doris Kratz-Hinrichsen.
Die Diplom-Sozialpädagogin ist seit fast 30 Jahren in der Migrationsarbeit tätig, so als Beraterin und Geschäftsführerin bei Migrationsfachdiensten in Schleswig-Holstein. Im Februar wählte der Landtag in Kiel die parteilose Fachfrau zur Landesbeauftragten für Flüchtlings-, Asyl und Zuwanderungsfragen. Eines der Themen, mit dem Kratz-Hinrichsen sich befasst, ist die Gesundheitsversorgung von Geflüchteten, besonders geht es um die psychische Gesundheit.
Denn auch chronisch Erkrankte haben nach den neuen Regeln keinen Anspruch auf eine Psychotherapie, stellte Jenny Baron von der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer fest. Baron sprach bei einer Tagung im Kieler Landeshaus, zu der Kratz-Hinrichsen eingeladen hatte.
„Abschiedskultur“ lautete der Titel der Veranstaltung, denn der Ton gegenüber Geflüchteten werde rauer, auch dort, wo sie eigentlich Schutz und Hilfe erwarten, berichtete Dorothee Paulsen vom Verein Lifeline, der sich um unbegleitete Minderjährige kümmert: „Leider häufen sich in den letzten Monaten die Berichte von Jugendlichen bezüglich diskriminierender, autoritärer und bestrafender Maßnahmen in Jugendhilfeeinrichtungen.“ Der Umgang werde „schroffer“, der Druck auf die Minderjährigen, „gefälligst klar zu kommen und keine Probleme zu machen, ist enorm“.
Der Umgang werde “schroffer”
Diese Atmosphäre, verbunden mit bürokratischen Hürden, verhindere, dass Geflüchtete auch nur versuchen, Hilfe für die Behandlung psychischer Krankheiten und Traumafolgen zu erhalten, so ein Fazit der Tagung. Das belegen auch Zahlen aus Barons Vortrag. So haben Asylsuchende deutlich seltener Kontakte zu ambulanten psychotherapeutischen Praxen als die restliche Bevölkerung. Dafür werden aber statistisch doppelt so viele Asylbewerber wie Regelversicherte stationär in eine Psychiatrie eingewiesen.
Kein Wunder, sagt Kratz-Hinrichsen: „Man kann sich denken, dass sich eine Krankheit, die nicht behandelt wird, verschlechtert.“ Werden also Menschen mit psychischen Krankheiten wie Depression oder Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) monate- und sogar jahrelang nicht versorgt, geht es den Betroffenen am Ende schlechter als vorher. Damit wird ein Krankenhausaufenthalt wahrscheinlicher. Ein Trauma, das sich zu einer PTBS auswachsen kann, bringen viele Geflüchtete mit, sei es wegen Krieg oder Not in ihren Herkunftsländern, sei es wegen Gewalt auf der Flucht.
Für die Betroffenen ist das eine Katastrophe, besonders schlimm für Kinder und Jugendliche: „Das Leben ist über Monate, oft über Jahre, in einer Warteschleife verhaftet“, sagt Dorothee Paulsen: „Warten auf einen Vormund, auf einen Schulplatz, das Asylverfahren. Viele Jugendliche, die am Anfang noch voller Motivation sind, verfallen nach und nach der Resignation oder werden wütend.“
„Traumata brechen meist wieder auf, wenn der Mensch etwas zur Ruhe gekommen ist.”
Aber auch für Erwachsene seien 36 Monate Warten auf eine Behandlung zu lang, sagt Kratz-Hinrichsen: „Traumata brechen meist wieder auf, wenn der Mensch etwas zur Ruhe gekommen ist. Wenn es nicht bearbeitet wird, gärt es und verhindert so die Integration. Denn die Menschen setzen sich mit der Krankheit auseinander, und damit wird alles schwieriger, vom Lernen der Sprache bis zur aktiven Suche nach einer Arbeits- oder Lehrstelle.“
Nicht nur individuell, sondern auch volkswirtschaftlich verursacht die aufgeschobene Hilfe mehr Schaden, als wenn Menschen schnell in Therapie kommen, so Jenny Baron in ihrem Vortrag. Denn eine stationäre Behandlung sei fast 13-mal so teuer wie eine ambulante, so heißt es im „Report Psychotherapie“ aus dem Jahr 2021.
Da eine Änderung des frisch geänderten Gesetzes unwahrscheinlich ist, schlägt Doris Kratz-Hinrichsen pragmatisch eine Öffnungsklausel für den Bereich Traumatisierung vor: „Das gibt es bereits für Schwangere, für die alle gesetzlich vorgesehenen Untersuchungen bezahlt werden, auch wenn sie erst kurz im Land sind.“
Vorschlag: Öffnungsklausel für Traumatisierung
Ein weiteres großes Problem sind die Sprachmittler, die für eine Psychotherapie meist notwendig sind. Es fehlen Fachkräfte, es fehlt vor allem aber eine Finanzierung. Und noch ein Problem: „Die Wege zur Versorgung sind in unserem Flächenland weit“, sagt die Landesbeauftragte. So bieten die Zentren für integrative Psychiatrie (ZiP) an den Uni-Standorten in Kiel und Lübeck Hilfen, dazu kommen ganz neu zwei regionale Angebote der Psychosozialen Zentren der Brücke Schleswig-Holstein und seit 2017 das Angebot der Psychosozialen Anlaufstelle der Diakonie Altholstein in Neumünster.
Doch das Angebot ist in Gefahr: „Werden die Bundesmittel wie angekündigt im Haushaltsjahr 2024 gekürzt, müssten die fast 90 Zentren, die aus dem Bundeshaushalt unterstützt werden, die gerade mühsam gefundenen und eingearbeiteten Fachkräfte zum Ende des Jahres wieder entlassen“, heißt es in einem offenen Brief der Brücke an die Landesregierung. Für die Geflüchteten bedeute das den Abbruch ihrer Therapien, „ein Desaster“. Auch das Zentrum in Schleswig-Holstein wäre betroffen. Die Brücke hofft darauf, dass immerhin im Landeshaushalt nichts gekürzt wird.
„Wie alle freiwilligen Leistungen stehen diese Mittel angesichts der Haushaltslage auf dem Prüfstand“, weiß die Flüchtlingsbeauftragte. „Ich setze mich natürlich dafür ein, dass die Hilfen zumindest auf dem heutigen Niveau erhalten bleiben.“
Das Argument, die medizinische Versorgung sei ein so genannter „Pull-Faktor“, der Geflüchtete nach Deutschland lockt, lässt sich übrigens durch Zahlen widerlegen. Andere europäische Länder
bieten Geflüchteten sofort dieselbe Versorgung wie der einheimischen Bevölkerung, sie sind damit aber nicht attraktiver als Länder wie Deutschland, die die Versorgung einschränken.
Esther Geißlinger (Originalveröffentlichung im EPPENDORFER 5/24)