Neue Diskussion um
Antidepressiva

Umstritten: Das Ausmaß von Absetzsymptomen bei Antidepressiva. Symbolfoto: Unsplash

Wie häufig sind Absetzsymptome bei Antidepressiva? Zahlreiche Internetbeiträge und einige wissenschaftliche Studien legen nahe, dass das Absetzen von Antidepressiva sehr problematisch ist und von Ärztinnen und Ärzten oft unterschätzt wird. Doch bisher war unklar, wie häufig Absetzsymptome tatsächlich auftreten. Forschende der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Uniklinik Köln haben die Studienlage jetzt umfassend neu analysiert. Deutlich wird demnach: Probleme sind seltener als gedacht. Doch manchmal können die Auswirkungen sehr schwerwiegend ausfallen. In der in Lancet Psychiatry veröffentlichten Arbeit kommen die Autoren zu dem Schluss, dass jede dritte Person nach der Beendigung einer Antidepressiva-Therapie von Symptomen berichtet. Allerdings ist die Hälfte dieser Symptomatik auf eine negative Erwartungshaltung zurückzuführen.

Antidepressiva machen zwar nicht im medizinischen Sinne abhängig. Dennoch berichten einige Patient:innen von Symptomen wie Schwindel, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen, wenn sie die Stimmungsaufheller absetzen. In den letzten Jahren gab es eine Vielzahl an Studien, die das Ausmaß der Absetzsymptome zu beziffern versuchten. „Diese Studien kommen zu teils sehr unterschiedlichen Ergebnissen”, sagt Prof. Christopher Baethge von der Uniklinik Köln. „Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Öffentlichkeit diskutierte das Thema sehr aktiv und manchmal auch emotional.”

Auswertung von über 6000 Studien

Um diese Frage verlässlicher zu beantworten, führten Baethge und Dr. Jonathan Henssler von der Charité eine umfassende Meta-Analyse durch. Sie werteten über 6.000 Studien aus und analysierten die Ergebnisse von 79 Arbeiten mit insgesamt 21.000 Teilnehmer:innen statistisch neu. Ihre Auswertung zeigt, dass im Durchschnitt jede dritte Person nach Beendigung der Antidepressiva-Behandlung Symptome erlebt. Allerdings ist nur die Hälfte dieser Symptomatik tatsächlich auf die Arzneimittel zurückzuführen.

„Wenn wir unspezifische Symptome und den Effekt der Erwartungshaltung berücksichtigen, ist etwa jede sechste oder siebte Person von Absetzerscheinungen betroffen, die als eigentliche Folge der Antidepressiva-Medikation auftreten”, erklärt Henssler. „Diese sind größtenteils mild. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen wird Antidepressiva ohne relevante Symptome absetzen können. In den allermeisten Fällen ist daher kein langwieriges oder kleinschrittiges Ausschleichen der Medikation nötig.”

Gemeinsame Entscheidungsfindung als Basis einer guten Behandlung

„Es ist wichtig, dass alle Menschen, die eine Behandlung mit Antidepressiva beenden wollen, ärztlich eng begleitet und im Falle von Entzugssymptomen individuell unterstützt werden”, betont Christopher Baethge. „Eine gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Betroffenen und Behandelnden, schon vor Beginn einer Therapie, ist die Basis für eine gute Behandlung.”
Der Studie zufolge entwickelte eine von 35 Personen, also knapp drei Prozent der Betroffenen, Absetzsymptome schweren Ausmaßes. Gehäuft traten diese nach Beendigung der Therapie mit den Wirkstoffen Imipramin, Paroxetin, Venlafaxin und Desvenlafaxin auf. (rd)


Henssler J, Schmidt Y, Schmidt U, Schwarzer G, Bschor T, Baethge C. Incidence of Antidepressant Discontinuation Symptoms – A Systematic Review and Meta-Analysis. Lancet Psychiatry 2024 Jun 05. doi: 10.1016/S2215-0366(24)00133-0


(Die für die Meta-Analyse berücksichtigten 79 Studien beinhalteten sowohl randomisierte, Placebo-kontrollierte Untersuchungen als auch Beobachtungsstudien ohne Kontrollgruppe. Von den insgesamt 21.002 Patient:innen hatten 16.532 ein Antidepressivum, 4.470 ein Placebo erhalten. Zusätzlich zu den Forschenden der Charité und der Uniklinik Köln waren Wissenschaftler:innen der Uniklinika Freiburg und Dresden an der Meta-Analyse beteiligt.)

Kommentar von Prof. Dr. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz (gegenüber Science Media Center):
„… Antidepressiva dürfen bei leichten Depressionen nur äußerst zurückhaltend – beziehungsweise in Einzelfällen – eingesetzt werden, sie haben aber insbesondere bei schweren Depressionen und bei Depressionen mit psychotischen Symptomen, wie zum Beispiel Wahn-Phänomenen, einen extrem hohen Stellenwert. Die Angst vor möglicherweise auftretenden Absetz-Phänomen darf also nicht dazu führen, dort, wo Antidepressiva indiziert sind, diese nicht einzusetzen, wenn die Nutzen-Risiko-Einschätzung positiv ist. Dies ist insbesondere deswegen relevant, da gegenüber Antidepressiva immer noch Vorbehalte bestehen und die tatsächlich nachweisbaren, evidenzbasierten Wirkeffekte kleingeredet werden.
Dass Antidepressiva keine Placebos sind, sieht man nicht zuletzt auch daran, dass sie biologische Veränderungen im Gehirn auslösen, die die Anpassungsprobleme beim Absetzen auslösen können.“

Einen ausführlicheren Bericht inklusive der Kritik von Experten der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) lesen Sie in der aktuellen Printausgabe 4/24.