Eine schlechte Nachricht jagt die nächste. So zumindest kommt es einem vor, wenn man die aktuellen Nachrichten verfolgt. Seit der Corona-Pandemie hat das Wort Krise Konjunktur. Krieg, Klima und andere Katastrophen setzen einen bedrohlichen Rahmen, der psychische Anspannung, Angst und Verzweiflung unmittelbar in den Vordergrund rückt – und das quer durch die Bevölkerung. Wie sehr belastet die aktuelle Lage die Menschen? Wie wirkt sich die Krisenlage auf die Psyche aus? Und wie schlimm ist das für bereits psychisch Kranke – für Menschen, die unter Depressionen leiden, Angststörungen oder unter Schizophrenie? Aber, viel wichtiger: Ist es wahr, dass Menschen resiliente Wesen sind, die extreme Herausforderungen sowohl physisch als auch psychisch bewältigen können? Über all diese Fragen sprach Christiane Harthun-Kollbaum für den EPPENDORFER mit Prof. Dr. Uwe Gonther, Ärztlicher Direktor und Chefarzt am AMEOS Klinikum Bremen.
EPPENDORFER: Herr Prof. Gonther: Wie geht es Ihnen mit all diesen negativen Schlagzeilen in den Medien?
PROF. UWE GONTHER: Die Nachrichten über Kriege, Anschläge, Krisen und Umweltkatastrophen gehen mir nahe. Ich empfinde diese Meldungen als belastend. Da sie allerdings die Realität abbilden, können sie auch nicht einfach ausgeblendet werden. Es kommt darauf an, sich mit anderen Menschen darüber auszutauschen, möglichst in einer vertrauensvollen Weise, nicht rechthaberisch, dann kann es auch wieder Ideen geben, wie sich mit alledem umgehen lässt.
Was bedeutet diese allgemeine Verunsicherung für psychisch kranke Menschen?
GONTHER: Menschen mit psychischen Krankheiten haben oft schon einen erhöhten inneren Stress-
pegel. Wenn dann noch schreckliche Bilder und Nachrichten dazu kommen, dann wird es zuviel an Belastung und die jeweilige Symptomatik eskaliert. Je nach Vorerfahrung und Prägung können Ängste, Zwänge, Depressionen, Selbstverletzungen, süchtiges Verhalten, Suizidgedanken, Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder auch heftige emotionale Schwankungen Überhand nehmen und die Betreffenden aus der Bahn werfen.
Beeinflusst die aktuelle Lage die Genesung der Menschen, die psychisch erkrankt sind?
GONTHER: Bereits in der Pandemie und beim Bemerken der eingetretenen Klimaveränderungen be-
richteten Menschen mit vorbestehenden psychischen Krankheiten von Verschlechterungen ihres Befindens und von Rückschritten im Verlauf der Genesung. Jetzt gibt es keine Erholungspause für die Psyche, vielmehr zwingen gewaltverherrlichende Staaten und Terroristen der liberalen Gesellschaft ihre menschenverachtende Weltsicht und militärische Praxis auf. Das ist lebensfeindlich und fördert keine Genesung. Einige Betroffene versuchen sich mit gewalttätigen Strategien zu identifizieren, wähnen sich dadurch an der Seite der Aggressoren. Zu einer Besserung ihrer psychischen Störung führt das nach meiner Einschätzung nicht. Für die allermeisten Menschen mit seelischen Krisen und Krankheiten stellen die großen Probleme unserer Zeit zusätzliche krankheitsverstärkende Faktoren dar.
Wie problematisch stellt sich die Situation für Menschen dar, die an Schizophrenie leiden? Kann man diese Menschen davon überzeugen, dass Sie in Sicherheit sind, die Lage sie nicht unmittelbar bedroht?
GONTHER: Aus der Psychiatriegeschichte sind Fälle bekannt, in denen die äußere reale Bedrohung der von Schizophrenie betroffenen Personen (oder die Gefährdung von hilflosen Menschen in deren Umgebung) zu einer kurzfristigen Verbesserung des Realitätsbezugs geführt hat. Das scheint mir allerdings keine regelmäßige Reaktion auf massive Gefahr zu sein. Wahrscheinlicher ist auch bei den Symptomen der Schizophrenie, dass diese unter starker Belastung zunehmen. Eine Beruhigung der erlebten Ängste bei Menschen mit Psychosen ist ohnehin nicht leicht zu erreichen. Jedoch sind für die Betroffenen die subjektiven Bedeutungen von Erlebnissen aus unserer außenstehenden Perspektive häufig verzerrt. Das Ausmaß der Ängste steht oft nicht in einem nachvollziehbaren Zusammenhang mit der benannten Ursache, weil aus dem inneren Erleben vielerlei weitere Befürchtungen hinzukommen. Bei Menschen in psychotischen Erlebnisweisen können Dinge, die anderen als geringfügig erscheinen, zum Ausgangspunkt für Weltuntergangsvorstellungen werden.
Umgekehrt mag es so scheinen, als würden sie sich nicht interessieren für den Weltenlauf. Wenn wir als Therapeutinnen und Therapeuten wachsam bleiben, bemerken wir häufig, wie das Geschehen doch aufgenommen, gefiltert, verändert wird, vielleicht gerade, weil der direkte Kontakt mit den erschreckenden Nachrichten ansonsten schlicht überwältigend wäre.
Welche Rolle spielt die aktuelle Lage innerhalb der psychischen Versorgungssysteme?
GONTHER: Wir verspüren an allen Stellen die Erschöpfung, bei den Profis ebenso wie in der Bevölkerung und unter denjenigen, die als psychisch krank gelten. So trifft der hohe Bedarf an Hilfen auf ein System, welches durch Umstellung der Krankenhausfinanzierung, Fachkräftemangel und hohe Krankenstände in den eigenen Reihen geschwächt ist.
Wie groß ist die individuelle, persönliche Ohnmacht, die sich in Familien, sozialen Systemen, bei Nachbarn, Arbeitskollegen, Studierenden ausbreitet?
GONTHER: Die Gesamtlage vergrößert das Risiko für Burnout-Situationen. Das müssen wir thema-
tisieren in unseren Teams, in Familien, Nachbarschaften, und es gehört auch auf die politische Agenda.
Was raten Sie psychisch Kranken, aber auch allen Menschen, zur Stärkung der Resilienz?
GONTHER: Miteinander reden hilft. Einander zuhören hilft vielleicht noch mehr. Gewaltfreie Kommunikation ist ein gutes Gegenmittel, wenn inhaltlich und formal in Gesprächen und Konflikten immer weiter aufgerüstet wird. Gefühle, auch Ohnmachtsgefühle, Angst, Wut, sollten bemerkt und besprochen werden. Empathie und Freundlichkeit im Alltag können einem selbst und anderen helfen. Bewegung an der frischen Luft ist lebenswichtig. Kunst (egal ob Musik, Malerei, Theater usw.) kann der Seele Flügel verleihen. Die Begegnung mit der Natur tut fast allen Menschen gut. Frisch zubereitete Mahlzeiten, am besten gemeinsam mit Freunden oder Familie zubereitet und genossen, stärken die Verbindung von Körper und Geist, Leib und Seele. Nicht zu vergessen: Die Suche nach dem Sinn im Leben, nach dem Licht in der Dunkelheit kann neue Hoffnung wecken. Wenn das alles nicht hilft, spätestens dann sollte auch professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden.
Und ist es wahr, dass Menschen resiliente Wesen sind, die extreme Herausforderungen sowohl physisch als auch psychisch bewältigen können?
GONTHER: Von meinem Lieblingsdichter Friedrich Hölderlin stammt das schöne Wort: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch…“ (Patmos). Solange wir am Leben sind, ist es auf wundervolle Weise so, dass unsere Wunden heilen können, dass auf den Winter der Frühling folgt, dass am Morgen die Sonne aufgeht, selbst nach langen dunklen Nächten.
Interview: Christiane Harthun-Kollbaum
(Originalveröffentlichung in der EPPENDORFER-Printausgabe 1/24)