Die Kunst der Arbeit

Harald Stoffers bei der Arbeit. Foto: Galerie der Villa | Fred Dott

Am Anfang steht die Linie. Gerade ist sie selten. Sie bietet Rahmen und Spur für Buchstaben, die mal groß, mal klein, über das Bild tanzen. Sich schief und krumm und quer und kreuz und zwischendurch eigenartig schön zu Worten vereinen und in eine Komposition aus Schrift und Form münden. Es sind Briefe. Mal sind sie DIN A 4 klein – mal meterlang, Wände bedeckend. Einen Rahmen auch für das Leben bildend.

Die Schriftbilder von Harald Stoffers sind Alltagsgestaltung, handfeste Arbeit. Von 9 bis 15.30 Uhr arbeitet Stoffers im Atelier der Galerie der Villa der Elbe-Werkstätten in Hamburg-Bahrenfeld an seinen Werken. Wenn das Atelier im Sommer für Ferien schließt, kann er an anderen Orten der Werkstatt arbeiten. Denn er kommt immer. Und produziert hochdotierte Kunst, für die im Großformat schon mal 30.000 Euro gezahlt wird.

Neben den Sozialleistungen zur Teilhabe im Arbeitsleben sowie Werken anderer Künstler sind es vor allem Stoffers Briefe, die die Arbeit der Galerie der Villa tragen. Sie bietet insgesamt 13 Arbeitsplätze für künstlerisch tätige Werkstattmitglieder. Laut Peter Heidenwag zählt sie zu den fünf erfolgreichsten Ateliers dieser Art für Menschen mit geistiger Behinderung. Weltweit. „Wir erwirtschaften, was es kostet. Ohne Harald würde das hier nicht gehen“, sagt Peter Heidenwag. Einmal hat er den Künstler gefragt, was er machen würde, wenn er richtig viel Geld hätte. „Süßigkeiten kaufen“, war Stoffers Antwort.

Heidenwag hat Maschinenbau und Psychologie studiert und arbeitet als freier Kurator und künstlerischer Berater für die Elbe-Werkstätten GmbH. 2002 hat er Harald Stoffers „entdeckt“: „Er wurde mir vorgestellt. Er arbeitete damals in der Montage und hinterließ immer zerrissene Fetzen von Briefen.“ „Ist das interessant?“, fragte ein Gruppenleiter Heidenwag. „Ich brannte sofort“, sagt der Mann, der mittlerweile zwei Bücher über Harald Stoffers Kunst geschrieben hat und ein freundschaftliches Verhältnis mit dem Künstler pflegt, der geistig behindert ist und wegen einer Parkinson-Erkrankung von Zeit zu Zeit im Rollstuhl sitzt. „Er ist ein ruppiger Hamburger mit gutem Humor. Er kann sehr sarkastisch sein“, schildert ihn der Kurator.

Noch heute zerreißt Stoffers manche Arbeit. Um einen Schlussstrich zu ziehen? Es geht um den Prozess, das reine Tun, Struktur für den eigenen Alltag, erklärt Heidenwag, der Stoffers Briefe der Konzeptkunst gegenüberstellt und Parallelen zu Hanne Darboven zieht. Es sei die eigene Alltagsgeschichte, die er niederschreibe, sich von der Seele zeichne. Alltägliches. Durchaus Banales. „Eine Kaffee Pause Machen Wasser Aufsetzen“ steht dann da oder „Will noch Erdbeeren kaufen.“ Beim Besuch in der Galerie der Villa steht plötzlich „Ich geh Eppendorfer“ auf dem Blatt – gemeint ist aber wohl nicht diese Zeitung, sondern die Eppendorfer Landstraße …

In der Regel enthalten die Briefe irgendwo zu Beginn die Anrede „Liebe Mutti“. Bekommen hat „Mutti“, die inzwischen in die Jahre gekommen ist, die Briefe selten. Und jetzt schreibt Stoffers auch schon mal an Justine. Oder an Peter. Denn vor kurzem ist der 56-Jährige bei seiner Mutter ausgezogen. Er lebt jetzt in einer unterstützten Wohngemeinschaft von „Leben mit Behinderung“.

Peter Heidenwag ist an Ausstellungskonzepten gelegen, bei denen die Kunst und nicht die Behinderung im Vordergrund steht. Zu Ausstellungseröffnungen in Paris und Rotterdam reiste Harald Stoffers sogar selbst mit. In New York waren nur Werke von ihm zu sehen. Jüngstes heimisches Projekt: Stoffers Beteiligung an der groß angelegten Ausstellung „Art und Alphabet“, die bis Ende Oktober in der Hamburger Kunsthalle zu sehen war und das vielschichtige Wechselverhältnis von Schrift und Bild in der Gegenwartskunst in den Fokus stellte. Stoffers wurde hier als einer von 22 internationalen Künstlern aus 15 Ländern gefeiert, seine Briefe bekamen einen großen Raum. Wie reagierte Harald Stoffers auf diese Ehre? Das fand er gut, sagt Peter Heidenwag. Mehr nicht. Anke Hinrichs