Von Machtgefälle
bis Missbrauch

Podiumsrunde: Dr. Andrea Schleu Expertin zum Thema Grenzverletzungen und Moderator Burkhard Plemper. Foto: Freundeskreis Ochsenzoll

„Wo ist die Grenze? Machtgefälle und Missbrauch in helfenden Berufen“ lautete der Titel der Veranstaltung aus der „reden! statt schweigen“-Reihe der Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll, die am 7. November mit über 200 Besucher*innen in der Kulturfabrik Kampnagel stattgefunden hat. Es ging um Grenzverletzungen in der Beziehungsarbeit in helfenden Berufen und damit um ein sensibles und heikles Thema. Wie kann es dazu kommen? In welchen Nuancen treten Grenzverletzungen auf? Wie kann man vorbeugen und wo kann auch Politik, konkret die Hamburger Sozialbehörde, strukturell ansetzen? Darüber sprachen unter anderem Sozialsenatorin Dr. Melanie Leonhard und die Referentin Dr. Andrea Schleu.

Sie ist Vorsitzende und Beraterin vom „Ethikverein e.V. – Ethik in der Psychotherapie“, Fachärztin für u.a. Psychotherapeutische und Innere Medizin und Autorin des Fachbuches “Umgang mit Grenzverletzung – Professionelle Standards und ethische Fragen in der Psychotherapie” (2021, Springer). Die Referentin wies grundsätzlich darauf hin, dass ein strukturelles Machtgefälle und eine Asymmetrie zwischen Klientinnen und Therapeutinnen bestehe und anerkannt werden müsse.

“red flag”: Vermischung der Rollen und Räume

Eine Grenzverletzung liegt laut Schleu vor und wird vom Ethikverein auch als „red flag“ kategorisiert, wenn z.B.: -eine Vermischung der professionellen und der privaten Rollen und Räume besteht, -sexuelle Kontakte und soziale Beziehungen zu Klientinnen und deren Angehörigen aufgenommen werden, – über Klientinnen außerhalb des Behandlungsteams/-settings gesprochen wird, – Klientinnen für Zwecke die Werbung/Öffentlichkeitsarbeit benutzt werden, geschäftliche / finanzielle Beziehungen zu Klientinnen unterhalten werden, -verbale und/ oder sexualisierte Aggression / Entwertung ggü. Klientinnen stattfindet. Kurz, immer dann, wenn Therapeutinnen eigene narzisstische, emotionale, sexuelle oder finanzielle Bedürfnisse in der Behandlung oder Betreuung realisieren.


Risikofaktoren für Grenzverletzungen von Seiten der Therapeutinnen seien z.B. eigene belastende Lebenssituation, persönliche Krisen oder Traumatisierungen und Traumatisierung und strukturelle Störungen der Klientinnen. Folgen für Betroffene könnten sein: Angst, Verwirrung, Selbstzweifel, Schuld- und Schamgefühle, Symptomzunahme, Dekompensation, Suizidalität. Möglichkeiten der Prävention seien z.B. eine „offene Fehlerkultur“, Ethikleitlinien, Schutz-/Präventionskonzepte, ständige Selbstreflexion im Therapieprozess, Intervision und interne sowie externe Supervision, Fortbildungen.

Verpflichtende Schutzkonzepte in Einrichtungen der Gesundheitsversorgung

Mit Hinblick auf Schutzkonzepte stellte Sozialsenatorin Dr. Melanie Leonhard fest: „Das in Deutschland in Selbstverwaltung organisierte Gesundheitswesen der gesetzlichen Krankenversicherung ist seit Dezember 2020 über eine bundesweit geltende Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses ebenfalls verpflichtet, in allen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung Schutzkonzepte zur Vorbeugung von Missbrauch und Gewalt einzusetzen. Dies betrifft alle Krankenhäuser, Arztpraxen und psychotherapeutischen Einrichtungen und Praxen, die Leistungen über die gesetzliche Krankenversicherung verordnen dürfen. Die unter meinem Vorsitz geführte Hamburger Landeskonferenz zur gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung unterstützt dies derzeit mit der Entwicklung einer Handreichung zur Erstellung von Schutzkonzepten für Einrichtungen der Gesundheitsversorgung für Kinder- und Jugendliche.“

Wo liegt die Grenze nun ganz praktisch, wollte der Moderator schließlich von Dr. Schleu wissen und veranschaulichte dies am Szenario einer Therapiesitzung, in der es bspw. darum geht, dass der Umgang mit pubertierenden Kindern den Klienten vor enorme Herausforderungen stelle. Wie weit darf ein Therapeut in diesem Fall sein Privatleben in die Sitzung einfließen lassen? Wäre eine Antwort „Ja, das kenne ich auch von meinen Kindern“ bereits ein Schritt zu weit heraus aus dem professionellen Setting hinein ins Private, wäre es eine Grenzverletzung?, fragte Plemper. Wenn es bei diesem Satz bleibt, so Dr. Schleu, nein, dann würde sie darin keine Grenzverletzung sehen. Würden die Erzählungen jedoch inhaltlich ausführlicher, dann werde es ernst. Man müsse in diesem Kontext auch bedenken, dass der Therapeut mit jedem weiteren Satz bezogen auf sein Privatleben Therapiezeit des Klienten „klauen” würde. (rd/Auszüge PM Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll)

(Weiterer Bericht in der Printausgabe EPPENDORFER 1/23, die Anfang Januar erscheint)