Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Der ausnahmslose Zwang, ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich in Krankenhäusern durchzuführen, ist in bestimmten Fällen unverhältnismäßig. Diese Regelung verletze das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Bis Ende 2026 muss der Gesetzgeber eine verfassungskonforme Neuregelung schaffen. Bis dahin bleibt das bisherige Gesetz in Kraft. Das teilte heute die Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts mit.
Bislang ist vorgeschrieben, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen, wie die Verabreichung von Medikamenten gegen den Willen eines Patienten, nur in Krankenhäusern erfolgen dürfen. Ziel der Regelung war es, durch die Standards eines Krankenhauses eine bestmögliche Behandlung und Schutzmechanismen zu gewährleisten. Das Gericht erkennt diese Intention grundsätzlich als legitim an. Jedoch wird die starre Vorgabe in Fällen, in denen sie unverhältnismäßige körperliche Beeinträchtigungen nach sich zieht, als verfassungswidrig bewertet.
Laut dem Urteil drohen erhebliche Beeinträchtigungen, wenn etwa schwerkranke Betreute durch den erzwungenen Ortswechsel ins Krankenhaus gesundheitlich belastet werden – etwa durch Desorientierung, Infektionsrisiken oder den Verlust der gewohnten Umgebung. Das gelte insbesondere dann, wenn die erforderliche Behandlung auch in der Einrichtung erfolgen könnte, in der die Betroffenen untergebracht sind, sofern diese einen nahezu gleichwertigen medizinischen Standard bietet.
Hintergrund: Der Anlassfall
Ausgelöst wurde die Prüfung durch die Klage einer psychisch schwer erkrankten Frau, die seit über 20 Jahren unter Betreuung steht. Ihr Betreuer hatte beantragt, ihre zwangsweise Behandlung mit Neuroleptika in der von ihr bewohnten Einrichtung durchzuführen, da ein Krankenhausaufenthalt eine erhebliche gesundheitliche Belastung bedeutet hätte. Die Gerichte lehnten dies ab, da das Gesetz die Behandlung ausschließlich im Krankenhaus vorsieht. Der Bundesgerichtshof legte den Fall dem Verfassungsgericht vor, das nun klargestellt hat, dass solche starren Vorgaben nicht in allen Fällen mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Sondervotum eines Richters
Das Urteil wurde mit einer Mehrheit von fünf zu drei Stimmen getroffen. Der Richter Heinrich Amadeus Wolff äußerte in einem Sondervotum Zweifel daran, dass die Verfassung den Gesetzgeber verpflichtet, eine Regelung für ambulante Zwangsmaßnahmen zu schaffen. Er argumentierte, dass der Schutz der Betroffenen durch die bisherige Regelung ausreichend gewährleistet sei und eine Erweiterung der Zwangsmaßnahmen neue Risiken berge. (rd)