Neuerkerode: Ein Fest
von einem Dorf

Vor 150 Jahren gründete ein Pfarrer bei Braunschweig die „Idioten-Anstalt zu Erkerode”. Er legte damit den Grundstein für ein ganzes Dorf für Menschen mit geistigen Behinderungen und für eine heutige Unternehmensgruppe.

Mit filigranen Strichen zeichnet Holger Denecke den Querschnitt eines Gehirns nach. Sein Kopf ist tief über das vor ihm liegende Blatt Papier gebeugt. Der 50-jährige Mann lebt aufgrund seiner Behinderung seit seinem zwölften Lebensjahr in Neuerkerode bei Braunschweig. Das von Ackerflächen umgebene Dorf wurde vor 150 Jahren eigens für die Betreuung von Menschen mit geistigen Behinderungen gegründet. Mittlerweile zählen zur Evangelischen Stiftung Neuerkerode zahlreiche Unternehmen mit rund 3.000 Mitarbeitern in Südost-Niedersachsen.

Denecke ist Mitglied der örtlichen Kunstwerkstatt „Villa Luise”, spielt in einem Theaterkollektiv und ist seit 15 Jahren Mitglied der Bürgervertretung von Neuerkerode, erzählt er stolz und legt für einen kurzen Moment den Stift beiseite. Gemeinsam mit neun weiteren Bürgern vertritt er gegenüber der Geschäftsführung die Anliegen der insgesamt 840 Bewohner des inklusiven Dorfs. Dank der Bürgervertretung entstand unter anderem ein Tunnel für Fußgänger, damit die Bewohner nicht die stark befahrene Landstraße überqueren müssen, die das Dorf teilt.

Nicht immer hatten die Bewohner in der 150-jährigen Geschichte der Einrichtung so viele Freiheiten. Daran kann sich auch Denecke noch zum Teil erinnern. „Als ich hier ankam, gab es an den Straßen noch Schranken, und man musste einen Urlaubsantrag stellen, um in den Nachbarort zu fahren.” Die Zäune, die früher das Dorf umgrenzten, standen bei seiner Ankunft im Jahr 1979 allerdings nicht mehr.

Gründungsvater der einstigen „Idioten-Anstalt zu Erkerode” war der evangelische Pfarrer Gustav Stutzner (1839-1921). Durch einen Zeitungsartikel wurde der Theologe auf das „körperliche und geistige Elend” der „Blödsinnigen” aufmerksam. Mit Hilfe einer Braunschweiger Bankierstochter und eines Arztes konnte er Spenden für sie einwerben. Im Jahr 1868 wurde ein erstes Haus eingeweiht, das noch heute im Zentrum des Dorfs steht.

Mit der Gründung der Anstalt habe zunächst eine fortschrittliche Zeit begonnen, betont Stiftungs-Direktor Rüdiger Becker. „Bis zum Ersten Weltkrieg hat man pädagogisch gearbeitet und erkannt, dass Menschen mit Behinderung auch etwas lernen können.” Auf diese Aufbruchsjahre folgten sechs schwierige Jahrzehnte: „Die ganz dunkle Phase war die Nazi-Zeit, in der mindestens 140 Menschen im Zuge des Euthanasie-Programms abtransportiert und ermordet wurden.” Auf dem Dorfplatz erinnert seit einigen Jahren eine Skulptur an das Schicksal einer Familie, die ihre Kinder verlor.

Auch nach 1945 wurden Bewohner weiterhin zwangsweise sterilisiert, sagt Becker. „Da gab es gar kein Unrechtsbewusstsein.” Während um das kleine Dorf herum das Wirtschaftswunder seinen Lauf nahm, habe auf Neuerkerode etwas Lähmendes gelegen. Noch 1971 seien die letzten Menschen in Neuerkerode erfroren, weil jemand nachts ein Fenster geöffnet habe und es noch keine vernünftigen Heizungen gegeben habe.

Erst mit den 1970er Jahren und der beginnenden Debatte um die Inklusion hätten sich die Zustände gebessert. Im Dorf gab es bald einen Kiosk und eine Bank. Wohneinrichtungen entstanden auch im benachbarten Braunschweig. Mittlerweile zählen zur Stiftung Einrichtungen der Altenhilfe oder der Suchthilfe und auch ein Krankenhaus. Somit sei ein Versorgungsnetzwerk gewachsen, das in Niedersachsen einmalig sei, betont Becker. In Werkstätten und Gärtnereien werden Menschen auch in der Ausbildung gefördert. Einige arbeiten bereits auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Jeden Nachmittag, nachdem alle Bewohner Feierabend haben, füllt sich das inklusive Dorf wieder. Ständig entstehen neue Initiativen. Neben einem Waschsalon haben Mitarbeiter kürzlich ein Senioren-Cafe für die Rentner im Dorf eingerichtet. Plüsch-Sessel, Nierentische und Schallplatten versetzen die älteren Besucher, die täglich zum Backen, Kochen oder für Brettspiele vorbeikommen, in ihre Jugendzeit. Direktor Becker ist überzeugt: „Bei uns liegt mehr Glück vor den Füßen der Menschen, als beispielsweise auf der Vorstandsetage eines börsennotierten Unternehmens. (epd)

Auf einer Jubliäums-Internetseite werden 150 Menschen aus Neuerkerode in kurzen Porträts vorgestellt: www.150-Jahre-Glueck.de