HAMBURG (hin). Mehr Begegnungsstätten, mehr offene Hilfen und Gruppenangebote, Finanzierung über Trägerbudgets und ein sozialraumorientierter Hilfeansatz – das sind Eckpunkte des Konzepts der so genannten Ambulanten Sozialpsychiatrie (ASP), auf die das Hamburger Hilfesystem seit zwei Jahren umgestellt wird. Wie bedarfsgerecht ist das neue System? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer Fachtagung im Rauhen Haus, in der eine Zwischenbilanz gezogen wurde.
Eine quartiersbezogene Versorgung mit „soviel Normalität wie möglich und sowenig Sonder-
systemen wie nötig“, gab eingangs Staatsrat Jan Pörksen von der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) als Zielvision aus. Das Ganze sei ein Prozess, der noch weitere zwei bis fünf Jahre brauche, bis alle darauf eingestellt seien. Vor allem für kleinere Träger sei die Planung nicht einfach, sagte er. Aber er werbe dafür, den Blick nach vorn zu richten und sich nicht zurückzusehnen nach früheren Modellen.
Mit Spannung erwartet wurden insbesondere die Darstellungen der Betroffenen und der Angehörigen. Wie hat sich die Veränderung des Systems auf ihre Nutzer, auf die Hilfsbedürftigen ausgewirkt? Für die Gruppe der so genannten Leistungsempfänger sprach Anke Korsch vom Vorstand des Landesverbands Psychiatrie Erfahrener e.V.. Als positiv listete sie auf, dass es mehr Kontaktstellen und mehr Gruppenangebote gebe (die aber nicht immer angenommen würden). Auch dass Genesungsbegleiter inzwischen gut bei den Trägern angenommen würden, lobte sie. Länger war allerdings ihre Liste mit Negativpunkten. Es werde zu wenig für schwer Kranke getan. Hier drohe „Abschiebung in Heime”, das sei Ausgrenzung. Ob man hier nicht eine höhere Stufe an ASP mit mehr Zeit und Gesprächen leisten könnte?
Insgesamt mangele es an Fachpersonal für eine bedarfsgerechte Versorgung. Es fehle an Zeit für schwierige Patienten und an Gesprächen. Kleinere Einrichtungen hätten „gewisse Geldnöte“, Korsch. Als „schlimm“ wertete sie, dass die Hilfegewährleistung „nicht transparent“ sei: „Früher wusste ich, wieviele Stunden mir zustehen.“ Wer etwas verheimliche, so Anke Korsch, „will auch was kürzen“ – Applaus aus dem Publikum. Geld sei da, konstatierte die 52 Jahre alte Betroffenenvertreterin, es sei nur falsch verteilt. Es bringe nichts, mahnte sie, chronisch Kranke noch kränker werden oder Ersterkrankte chronisch krank werden zu lassen.
Die Sicht der Angehörigen erläuterte Dr. Hans Jochim Meyer, Vorsitzender des Landesverbands der Angehörigen psychisch Kranker. Für einen Gesamteinblick habe es an personellen Ressourcen gemangelt, schickte er seiner Kritik voraus – die es in sich hatte. Sein Verband hatte von Anfang an vor der Gefahr einer schlechteren Versorgung schwer kranker Menschen gewarnt. Nach Meyers Informationen, die auf einer Mitgliederumfrage beruhten, wird bezweifelt, „dass bei der jetzigen Struktur der ASP die Bedarfsgerechtigkeit für schwerkranke Menschen in der Phase einer akuten Verschlechterung immer gegeben ist.”
Mit der Etablierung der Begegnungsstätten habe man eine „ausgeprägte Komm-Struktur“ geschaffen. Äußerungen zum Thema Begegnungsstätten reichten Meyer zufolge von hilfreich und unterstützend (eher auf leichter Erkrankte bezogen) bis zu ablehnend. Meyer kritisierte desweiteren einen Mangel an einheitlichen Standards. Zum Thema aufsuchende Betreuung habe es viele kritische Stimmen gegeben: „Viele Anbieter erwecken offenbar den Eindruck, aufsuchende Hilfe gibt es nicht mehr.“ Mehrfach seien Anbieter nur zu Gesprächen in der Einrichtung bereit gewesen, hätten Hausbesuche mit dem Argument verweigert, das würde nicht mehr bezahlt. Etliche weitere Mitteilungen bestätigten die Befürchtung einer Benachteiligung schwer Kranker. „Der kranke Mensch kann oder will keine Begegnungsstätte besuchen, er möchte auch keinen Besuch haben, der Leistungsanbieter meint, das respektieren zu müssen, und der kranke Mensch wird sich selbst überlassen.“ Dieses Verhalten einzelner Leistungsanbieter werde „sicher durch die ökonomischen Bedingungen der ASP begünstigt.“ Schwerkranke Menschen in einer akuten Psychose, einer Manie oder Depression benötigten aufsuchende Hilfe, was nach Eindruck der Angehörigen nicht im erforderlichen Maß gewährleistet sei. Meyer fragte abschließend, ob nicht zu viel Ressourcen in die vielen Begegnungsstätten flössen und ob solche nicht besser in aufsuchende Hilfen für diejenigen investiert werden sollten, die den größten Hilfebedarf haben.
Stellung zu der Kritik nahm der Motor und Mitinitiator der Umstellung Axel Georg-Wiese, seit 1996 Sozialpsychiatrie-Referent und seit 2013 Projektleiter für den Umbau in der BASFI, der kurz nach der Tagung in Pension ging. Er sei „gnadenlos optimistisch“, schickte Georg-Wiese voraus. Man sei auf einem Weg. Einsparungen habe es bei keinem Träger gegeben, stellte er klar, und inzwischen sei das Budget um fünf Millionen Euro erhöht worden. Mittlerweile hätten 76 Prozent aller Anbieter – nämlich 59 – auf ASP umgestellt, die rund 95 Prozent aller ambulant betreuten Personen erreichten, nämlich 6150. Insgesamt gebe es 110 Begegnungsstätten. Er finde auch, soviel müssten es nicht sein, so Georg-Wiese. Es seien 60 Widersprüche von auf ASP umgestellten Personen gegen Bewilligungsbescheide eingegangen. „Jedem konnte zum Beispiel durch eine Aktualisierung der Gesamtplanung abgeholfen werden.“ Unter den „Neufällen“ habe es keine Widersprüche gegeben. Eine Dokumentation des trialogisch besetzten Begleitmanagements sei im Internet einsehbar (www.diakonie- hamburg.de). „Wir sind gnadenlos transparent“, so Georg-Wiese. Zum Thema Begegnungsstätten merkte er an: Klienten sollten auch von zu Hause abgeholt werden, wenn sie nicht von sich aus kommen könnten oder wollten. Wenn es an aufsuchenden Hilfen mangele, sollte dies dem Fachamt Eingliederungshilfe gemeldet werden: „Wir gehen Hinweisen nach, das ist so nicht geplant.“ Für die Zukunft kündigte er eine verbesserte Hilfeplanung an. Vereinbarte Maßnahmen sollen künftig von beiden Seiten unterschrieben werden. An Qualitätssicherung werde mit Hochdruck gearbeitet.
Im weiteren Verlauf der Veranstaltung setzten sich Joachim Speicher vom Paritätischen und Prof. Christian Bernzen aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem Thema Bedarf/Bedarfsklärung und Bedarfssicherung auseinander, bevor Prof. Dieter Röh (HAW Hamburg) Einblicke in den Zwischenstand der empirischen Beforschung der Umstellung gab. Nach Angaben von 388 Befragten aus 30 Einrichtungen nutzen fast alle Einzelberatung, aber nur rund die Hälfte Gruppenangebote beziehungsweise den offenen Treff. In Bezug auf Peerarbeit wurde festgestellt: Es gebe ein zunehmendes Interesse (52 Prozent der befragten Einrichtungen) an einer Beschäftigung. Vor allem auch größere Träger (36 Prozent) hätten Peers eingestellt, meist als (EX-IN-) -Praktikanten oder geringfügig Beschäftigte. Nachmittags tauschten sich die Tagungsteilnehmer in Arbeitsgruppen zu Einzelaspekten aus.