Die moderne Molekular- und Zellbiologie erkundet Botschaften in den Zellen, die diesen ein Gedächtnis schenken und über ihre Widerstandsfähigkeit mitbestimmen. Die Zellen des Körpers, bewies der Zweig der Epigenetik, erinnern sich an Umwelteinflüsse und Lebensstil, die Erfahrungen der Eltern und Großeltern werden ebenso gespeichert wie Erlebnisse aus der Zeit vor und nach der Geburt. Was das für die Krankheitsvorsorge bedeutet, fasste der Wissenschaftsjournalist Peter Spork in seinem Buch „Gesundheit ist kein Zufall“ zusammen, das für die Auszeichnung Wissensbuch des Jahres 2017 der Zeitschrift Bild der Wissenschaft nominiert wurde. Die Kernbotschaft: Gesundheit ist ein Prozess, und Krankheiten resultieren aus dem Zusammenspiel von Erbe und Umwelt.
HAMBURG. „Epigenetik“ nennt sich das relativ junge Fachgebiet in der Biologie, in dessen Rahmen Änderungen der Genaktivität erforscht werden, die nicht auf Mutation beruhen und trotzdem gespeichert und an Tochterzellen weitergegeben werden. Molekularbiologische Strukturen in den Zellen, so die neuesten Erkenntnisse, verändern sich unentwegt als Reaktion auf Umwelteinflüsse. Sie speichern Informationen über unsere Vergangenheit, erinnern sich an Umwelteinflüsse und die Folgen des eigenen Lebensstils. Erfahrungen der Vorfahren sind in ihnen ebenso gespeichert wie Erlebnisse aus der Zeit um die Geburt und weitere Gegebenheiten aus dem bisherigen Leben. „Offenbar wird ein großer Teil unserer Persönlichkeit und Widerstandskraft bereits in den 24 Monaten rings um unsere Geburt festgelegt. Prägung scheint Generationsgrenzen überspringen zu können“, so Spork. Die Gesundheit der Eltern beeinflusse auch die Gesundheit ihrer Kinder und Enkel – das Phänomen der transgenerationellen Prägung. „Dem Anschein nach vererben wir neben unseren Genen auch erworbene Umweltanpassungen – und somit ein Stück weit unsere Gesundheit und Persönlichkeit. Widerstandskraft und psychische Stabilität bis ins hohe Alter sind demnach eine Reaktion auf Jahre bis Jahrzehnte zuvor geschriebene und in den Zellen des Körpers gespeicherte molekularbiologische Botschaften“.
Was aber spielt sich in den Zellen genau ab? Neben dem geerbten, nicht beeinflussbaren Text des Erbgutes gibt es epigenetische Strukturen in der Zelle, meist biochemische Anhängsel, die beeinflussen, welche ihrer 23000 Gene eine Zelle benutzen kann und welche nicht. Sie bestimmen darüber, ob und wie gut die Zelle ein Gen überhaupt noch an- oder abschalten kann. Die Gene befinden sich im Zellkern auf dem Erbgutmolekül DNA, sie bestimmen, wie die Zelle aussieht und welche Aufgaben sie erfüllt. Diese liest einen bestimmten Satz an Genen ab, Proteine, die gerade benötigt werden. Die epigenetischen Strukturen (deren Gesamtheit wird Epigenom genannt) sind eine zusätzliche Kontrollinstanz: Sie regulieren die Gene, wirken wie ein Schalter oder Dimmer. Werden die Gene herunterreguliert, kann die Zelle die entsprechenden Gene schlecht nutzen. „98,5 Prozent des menschlichen Erbgut-Textes, der keine Codes für Proteine enthält, dient der Regulation der verbleibenden 1,5 Prozent Text, der tatsächlich Protein-Baupläne enthält“, so Spork.
Für den gesunden Stoffwechsel in Körper und Gehirn ist es meist weniger entscheidend, welche Variante man bei einem einzelnen Gen geerbt hat. „Ausschlaggebend ist vielmehr, welche Gene in den Zellen aktivierbar sind und welche nicht“, erläutert Spork. „Gesundheit entsteht jeden Tag neu – auch durch eine gesunde Lebensweise“. Die einfache Zelle reagiere letztlich auf irgendwelche Einflüsse von außen, die ihr Programm verändern. „Das können künstliche oder körpereigene Botenstoffe sein, aber auch Umwelteinflüsse wie Sport, Ernährung, Geborgenheit“.
Während Bewegung eine nachweisbar klar positive Wirkung hat, ist der Einfluss von starkem, chronischem oder toxischem Stress verheerend. „Akuter Stress bewirkt in kürzester Zeit epigenetische Veränderungen, kann das Oxytocin-System umprägen. Das Wechselspiel zwischen Erbe und Umwelt findet nicht nur in Muskeln und Fettgewebe, sondern auch im Blut und sehr wahrscheinlich im Gehirn statt“. Es gebe Hinweise, das prägende Veränderungen der Genaktivierbarkeit in den Zellen des Gehirns an psychischen Leiden wie Depressionen, Angsterkrankungen, Bipolarer Störung, Autismus, Borderline-Syndrom oder Schizophrenie beteiligt seien. Immerhin: Dass Psychotherapie wirkt, bewies eine Untersuchung der Würzburger Psychotherapeutin Katharina Domschke. Sie entdeckte bei 28 Patientinnen mit häufigen Panik-Attacken, dass in ihren Blutzellen die Kontrollregion eines bestimmten Gens namens MAOA ungewöhnlich schwach mit Methylgruppen besetzt war, die meist die Aktivierbarkeit benachbarter DNA-Abschnitte hemmen. Schreckliche Erlebnisse, so die Schlussfolgerung, verringern die Methylierung am MAOA-Gen, erhöhen das Risiko, Panik-Attacken zu bekommen. Nach einer sechswöchigen kognitiven Verhaltenstherapie waren die Panikattacken bei einem Teil der Patientinnen verschwunden – und mit ihnen die zugehörige epigenetische Signatur, berichtet Spork.
Was macht das Geheimnis eines langen Lebens aus? „Maßgeblich für unsere Gesundheit und unsere Persönlichkeit ist die größtenteils epigenetisch in den Zellen gespeicherte Information über deren Vergangenheit“, erläutert Spork in seinem Buch. „Sei es das Laufen der letzten Monate, der weitgehende Verzicht auf Zucker und Alkohol im jungen Erwachsenenalter oder die eine oder andere positive Erfahrung als Säugling oder in der Kindheit und Jugend: Alles hinterlässt bis ins Alter seine Spuren in den Epigenomen der Zellen. Alles – auch das lange Vergangene – wirkt auf seine Weise in unserem gegenwärtigen Gesundsein nach“. Gene und Lebensstil wirkten permanent gemeinsam, aus ihrem Zusammenspiel entwickelten sich die äußere Erscheinung, die Widerstandskraft, die Persönlichkeit – bis ins hohe Alter. Zellen können ihren spezifischen epigenetischen Code auch an ihre Tochterzellen weitergeben, sie vererben die biochemischen Informationen an all die vielen Zellen, die im Lauf des langen menschlichen Lebens noch von ihnen abstammen werden. Dabei sind epigenetische Markierungen potentiell reversibel.
– Prägung beginnt schon vor der Zeugung –
„Wir sollten endlich die Dinge in den Blick nehmen, die unsere Genregulation wirklich dauerhaft und generationsübergreifend verändern und prägen können. Einer der ganz entscheidenden Zeiträume beginnt dabei erstaunlicherweise bereits drei Monate, bevor wir ein Kind zeugen“, berichtet Spork. Die vorgeburtliche und frühkindliche Prägung beeinflusse beispielsweise die Veranlagung zu Übergewicht oder Stresskrankheiten aller Art. Eine besonders wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Ernährung und ein womöglich ungesund hohes und anhaltendes Stressniveau der Mutter während der Schwangerschaft und des Kindes in der ersten Zeit nach der Geburt. „Epigenetische Weichenstellungen brennen sich jetzt tief in die Biochemie der Zellen ein und erhöhen im ungünstigen Fall zeitlebens das Risiko für z.B. Diabetes und Übergewicht, Herzinfarkt, Depression, Sucht- und Angsterkrankungen“.
Bei einem Experiment mit Mäusen konnte die US-Neurobiologin Tracy Bale aufzeigen, dass die perinatale Prägung bereits drei Monate vor der Zeugung startet. Männliche Nager wurden starkem Stress ausgesetzt, der seinen Weg ins Sperma fand. Bales Mäuse der nächsten Generation zeigten eine auffällig veränderte Stressreaktion. Für Bale ist es naheliegend, dass ähnliche Prozesse auch bei Menschen ablaufen und für Peter Spork deshalb klar: „Prävention beginnt mit Sicherheit bereits im Mutterleib und sogar sehr wahrscheinlich schon ein wenig früher, nämlich in dem Moment, in dem sich Eltern ernsthaft ein Kind wünschen“.
Die frühe Entwicklungsphase eines Kindes ist besonders wichtig für die Prägung. Mit zunehmendem Alter und Differenzierungsgrad frieren sich die epigenetischen Muster in den Zellen immer mehr ein. „Das macht die Epigenome immer unflexibler. Deshalb ist das erste Schwangerschaftsdrittel eine so entscheidende Zeit“, erläutert Spork. Positive und negative Einflüsse wirkten besonders stark. „Oft ist aber die Stärke des Signals entscheidend. Vermeintlich ungünstige Einflüsse wie Strahlung oder Stress können in geringer Dosis sogar eine positive Wirkung haben. Dann regen sie die Zellen dazu an, sich vor der potentiellen Gefahr besser zu wappnen“ – siehe Resilienzforschung. Für die Prägung seien auch die ersten zwölf Monate nach der Geburt eine besonders wichtige Zeit. „Das Wachstum und die Verknüpfung der Areale des Gehirns bekommen nun einen gewaltigen Schub. Der genregulatorisch aktive Teil des Erbgutes der Nervenzellen ist noch immer empfänglich für Umwelteinflüsse. Die Spanne der perinatalen Prägung, also die zwölf Monate vor und nach der Geburt, scheint im Hinblick auf die spätere Gesundheit und psychische Widerstandsfähigkeit besonders maßgeblich zu sein“, so Spork. Der kanadische Hirnforscher Michael Meaney habe etwa in Tierexperimenten als erster den Zusammenhang von frühkindlichem Stress und molekularbiologischen Veränderungen im Gehirn bewiesen, die zeitlebens stressanfälliger machen. Die Aktivierbarkeit der Gene wurde zeitlebens verändert.
Sonja Entringer zeigte in ihrer Doktorarbeit am Stresszentrum der Uni Trier auf, dass eine psychische Belastung der Mütter in der Schwangerschaft (etwa durch Tod eines Elternteils) Folgen hatte: Der im Mutterleib indirekt miterlebte Stress musste sich molekularbiologisch in die Zellen des Stressregulationssystems der Babys eingeprägt haben. Spork: „Die Betroffenen hatten bezogen auf die Vergleichsgruppe auch im Alter von 25 Jahren noch ein besonders überempfindliches Stressreaktionssystem. Und dieses Ungleichgewicht hatte negative Auswirkungen auf den Gesundheitsprozess. Der Stoffwechsel der Probanden zeigte erste Abnutzungserscheinungen, Messungen ergaben deshalb ein erhöhtes Risiko für Typ-2-Diabetes“. Und: Esse die Mutter zuviel, werde der Fötus „überfüttert“, werde das Kind in seiner Molekularbiologie ebenfalls umprogrammiert. „Im Zuge seiner biologischen Entwicklung lernt es, auch in Zukunft mit einem Nahrungsüberangebot zu rechnen –und es fatalerweise sogar einzufordern. Die beteiligten Organe bilden sich anders aus als unter Normalbedingungen. Diese Menschen werden später eher dick“.
Vernachlässigung ist eine Form des Stresses, der toxisch werden kann und in der prägenden Lebensphase das Stressregulationssystem dauerhaft verändert. Das Risiko für komplexe Krankheiten wie ADHS, Allergien und Asthma steigt. Dem kanadischen Hirnforscher Michael G. Meaney sei es gelungen, so Spork, bei frühkindlich vernachlässigten Ratten die negative epigenetische Prägung in eine positive Richtung zu überschreiben – durch eine angereicherte Lebensumwelt mit vielen Artgenossen und Spielsachen. Ähnliches funktioniere vielleicht auch bei Menschen, auch durch Psychotherapie. Bindungsforscher Karl Heinz Brisch habe etwa belegt, dass sich sichtbare Veränderungen im Gehirn von Kindern, die früh vernachlässigt worden waren, mit einer intensiven Therapie von mehreren Stunden in der Woche zumindest teilweise rückgängig machen lassen. Fazit: Die meisten Krankheiten entstehen nicht erst im Erwachsenenalter. Ihr Ursprung liegt oft in den frühesten Entwicklungsstadien.
Spannende Ergebnisse gibt es laut Spork auch zur Transgenerationellen Epigenetik, also der Vererbung der Umweltanpassungen über die Keimbahn an zukünftige Generationen. Forscher traumatisierten z.B. Mäuse und stellten fest, dass die Traumatisierung auch die Persönlichkeit ihrer Kinder und Enkel veränderte. Dazu traumatisierten sie nur männliche Jungtiere und ließen diese sich mit normal aufgewachsenen Weibchen verpaaren. Stress konnte somit nur über epigenetische Veränderungen der Spermien zu den Nachkommen gelangen. 2010 entdeckten Forscher um Isabelle Mansuy in Zürich, dass die Nachfahren der seelisch veränderten Väter zumindest teilweise die gleichen psychischen, an menschliche Depressionen erinnernden Symptome zeigten wie die Väter selbst. Außerdem war auch beim Nachwuchs das Muster der Genaktivität in den einschlägigen Arealen des Gehirns verändert. Die Effekte ließen sich sogar noch eine Generation später nachweisen. Mansuy hält es für wahrscheinlich, dass solche Resultate auf den Menschen übertragbar sind: „Manche Symptome, welche die gestörten Mäuse zeigten, sind auch bei Borderline-, Depressions- oder Schizophrenie-patienten sehr prominent vertreten“. Bei Mäuseexperimenten stellte sich zudem heraus, dass positive Umwelteinflüsse die negativen Folgen eines frühen Traumas später im Leben überschreiben können – und das auch generationsüberschreitend. Forscher am Helmholtz Zentrum München fanden zudem heraus: Ein durch Ernährung erworbener Diabetes kann über Eizellen und Spermien von Mäusen vererbt werden, die Vererbung von Umweltanpassung per Epigenetik funktioniert also auch über die mütterliche Linie.
„Hungerwinterbabys”: Die Botschaft der Kinder
Eine Untersuchung an niederländischen „Hungerwinterbabys“ von 1944/45 zeigte, dass sich epigenetische Anpassungen an den Hunger in deren Keimbahn festgesetzt haben müssen. Forscher fanden u.a. heraus, dass die Kinder der „Hungerwinterbabys“ bei ihrer Geburt ungewöhnlich klein sind – ein Indiz dafür, dass eine transgenerationelle epigenetische Vererbung auch beim Menschen existiert. Spork: „Unsere Keimzellen enthalten nicht nur den Code für all die Proteine, die das neue Leben dereinst zusammenbauen soll. Sie enthalten auch Botschaften für die Zukunft. Diese sind an die Zellen, Gewebe und Organe der kommenden Generation gerichtet. Sie sagen den Zellen der Kinder, wie sie ihre DNA benutzen sollen. Und das hilft dem Nachwuchs, sich besser in der Welt zurechtzufinden“. Allerdings: Die meisten Umweltanpassungen werden nur über eine oder wenige weitere Generationen vererbt. Das nebengenetisch weitergegebene Merkmal wird mit der Zeit also seltener. Michael Freitag
Peter Spork: „Gesundheit ist kein Zufall. Wie das Leben unsere Gene prägt“, DVA, München 2017, 414 S., ISBN: 978-3-421-04750-2, 22,99 Euro.