HAMBURG. Sie stehen ganz unten in der Hierarchie der Drogenkonsumentinnen – und auch in der der Prostituierten. Frauen, die „anschaffen“, um ihren Konsum zu finanzieren. Um speziell ihnen zur Seite zu stehen mit sozialen und medizinischen Hilfen, gründete sich vor 25 Jahren der Verein Ragazza. Er betreibt auch den bundesweit einzigen Druckraum nur für Frauen. Der Verein und die Mitarbeiterinnen verstehen sich auch als Fürsprecher und Lobby für die Klientinnen, wie bei der Jubiläumsfeier in St. Georg deutlich wurde.
Wie alles anfing? Daran erinnerte bei der Feier Martina de Ridder, damals eine der Gründungfrauen. Ragazza entstand in einem Wohnzimmer, in einer Runde engagierter Frauen. Sie wollten Domenica zu einer Möglichkeit verhelfen, Spendenbescheinigungen auszustellen. Hamburgs wohl berühmteste Hure war auch als Sozialarbeiterin aktiv und häufiger im TV präsent. Darüber erhielt sie viel Geld zur Unterstützung ihres Einsatzes für drogenabhängige Mädchen. Diese Mittel, das Engagement und ein behördlicher Zuwendungsbescheid reichten letztlich für eine erste, sehr kleine Anlaufstelle in der Stiftstraße: Anfangs wurden Wunden notdürftig direkt neben der Essenszubereitung versorgt.
Über die Jahre folgten mehrere Umzüge. Gern gesehen war Ragazza nicht. Früher wurden auch schon mal Scheiben eingeschlagen: „Ragazza war nicht die beliebteste Nachbarin“, machte Geschäftsführerin Gudrun Greb beim Jubiläumsfest deutlich. Im Jahr 2000 wurde der Verein dann – auf Drängen der Behörde – um den „weltweit ersten Konsumraum“ erweitert, „der nur Frauen zugänglich ist“. Für den Verein damals schwierig. Es gab Kündigungen, fast das ganze Personal musste ersetzt werden. Doch: „Die Behörde wusste es besser als wir“, so Greb. Heute halten die Mitarbeiterinnen ihre Arbeit für „notwendiger denn je.“
Die Frage, ob es eine Einrichtung wie diese heute noch braucht, beantwortete auch die Vorstandsfrau und Professorin Kathrin Schrader von der Frankfurt University of Applied Science, die 2013 über Drogenkonsum bei Sexarbeiterinnen promoviert hatte, eindeutig und kämpferisch. Sie wies auf „zunehmende rechte, frauenfeindliche Tendenzen in der Gesellschaft“ hin, in der ein „liberaler Umgang mit Sexarbeit von vielen Seiten bekämpft“ werde. Ferner konstatierte sie ein „neoliberales Effizienzdenken“ sowie eine „neue Lust auf Nor-mativität“, auf regulieren und pauschalieren. Der öffentliche Tod der Nicht-Verwertbaren werde nicht akzeptiert, „der soziale Tod billigend in Kauf genommen“. Sozialarbeiterinnen dürften sich nicht zu „Dienerinnen eines auf Effizienz und Disziplin getrimmten“ neoliberalen Regimes machen lassen. Im Einsatz für drogengebrauchende Sexarbeiterinnen gehe es nicht nur um das Lösen medizinischer und sozialer Probleme, hier sei man auch den Menschenrechten verpflichtet. Es gehe um „starke Frauen, die tagtäglich um ihr Leben kämpfen“, Frauen, die stolz, würdevoll, liebevoll seien – aber eben das werde ihnen von der sie massiv abwertenden Gesellschaft abgesprochen. Schrader schloss mit ihrer „Vision 2030“: Ein „Hurenhaus im Herzen der Stadt“, mit einer Akademie für Sexarbeit, mit Therapie- und Wellnessbereich und Wohngemeinschaften. Und mit Konsumräumen im Penthouse, wo es Marihuana und Drinks gibt – und einen kontrollierten Opiat -und Koksverkauf.
Behördliche Realität steuerte anschließend Hildegard Esser, Abteilungsleiterin Gesundheit in der Gesundheitsbehörde, mit ihrem Grußwort bei. Die erfolgreiche Arbeit von Ragazza seit 25 Jahren – die sie auch „Hilfe ohne jegliche Vorurteile“ nannte – sei unstrittig. 18 Prozent der drogenabhängigen Frauen seien in der Prostitution, so die Statistik, die meisten seien zwischen 30 und 40 Jahren alt und seit langem abhängig. Den Mitarbeiterinnen danke sie für „unglaubliche Motivation“. Die Behörde stehe zu der Einrichtung – auch wenn es immer mal wieder erforderlich sei, Konzepte anzupassen.
Falko Droßmann, der neue Bezirksamtsleiter, äußerte sich anschließend erschrocken über die Kritik, die an Ragazza bei einem St. Georg-Bürgerforum geäußert worden sei – bis hin zur Infragestellung der Fördermittel. „Jeder einzelne Euro, der für Ragazza ausgegeben wird, ist ein guter Euro“, habe sich daraufhin der örtliche Polizeikommissariatsleiter vor die Einrichtung gestellt, in der Frauen aus der gesamten Welt Zuflucht finden würden. Diesen Frauen, die in der Hierarchie der Prostituierten ganz unten stünden, ein Stück Menschenwürde zurückzugeben, sei Kern dieser Arbeit.
Sehr kritisch über die Veränderung der Drogenhilfe äußerte sich schließlich Prof. Irmgard Vogt aus Frankfurt. Die Frauen-Suchtbewegung habe insgesamt viel erreicht. Doch es sei bedrückend, wie wenig Frauenperspektiven in wissenschaftlichen Studien berücksichtigt würden. So wisse bis heute keiner, welche Substitutionsmittel für Frauen gut seien und welche nicht. Auch das Thema Frauen und Alkoholabhängigkeit sei „eine kolossale Leerstelle“: Es gebe keine Untersuchung darüber, welche Medikamente für Frauen in bestimmten Phasen sinnvoll seien. Der relative Anteil von Frauen mit HIV sei im Suchtbereich doppelt so hoch wie bei Männern – zugleich erreiche „Harm reduction“ (Risikominimierung) Frauen schlechter. Auch an Gewaltschutz mangele es: Gewalt und auch Vergewaltigungen an Frauen würden auch in Suchthilfeeinrichtungen „tot geschwiegen“, kritisierte Vogt. Und wenn Frauen früh die Kinder weggenommen würden, löse dies das Problem nicht. Denn: „Fremdplatzierung“ sei wiederum ein Risiko für Sucht, produziere Sucht. Ein weiteres Problem, das sie aufgriff: Süchtige Frauen würden mehr stigmatisiert als Männer. Doch Stigmatisierung blockiere die Hilfesuche. Ihr Appell: „Frauen müssen sich zusammenschließen, Frauenpower aufbauen!“ Anke Hinrichs